Freitag, 29. Oktober 2010

PASSAGENERÖFFNUNG

                                  I am a camera
hier tobt der aufschwung.
eröffnung der passage
um acht uhr morgens,
überfüllt um zehn.
das fest tobt multikulti.

kunden grüßen einander
mit nastrovje oder salem aleikum.
einige sagen auch guten tag.
alle sind fröhlich und greifen nach
sonderangeboten und luftballons.

für die kinder gibt es im ersten stock
eine sandkiste - annähernd so groß
wie anderswo ein ganzer spielplatz.
am rand liegt ein Hund an kurzer leine.

dem tier droht ohrzwang,
denn saxophon und  kalbfell
jazzen sich durch die gänge

außer dem hund ist nur ein
deutscher rentner unfroh und
beschimpft einen türkenjungen.
hat ihm der bengel doch
mit seinem riesenmohnkuchen
fast die windjacke beschmiert.

hinter einer balustrade kauert,
die kapuze über dem kopf gezogen,
ein sprayer, seine Farbtubend ordnend.
gleich lädt er seine pistolen.

jn,  28. Oktober 2010

             

Sonntag, 17. Oktober 2010

Bußgeld

Az: 58.19.505245.8
Sehr geehrter Herr Polizeipräsident in Berlin, lieber Herr Glietsch.
am 14. September haben Sie den folgenden Tatvorwurf gegen mich erhoben: Ich soll mich einer „Verkehrsteilnahme durch Parken“ schuldig gemacht und so eine schädliche Verunreinigung der Berliner Luft verursacht haben (§ 19 OWiG; § 41 Abs. 1 iVm Anlage 2 StVO; § 49 DStVO; 24 StVG; 153 BKat ). Ferner werfen Sie mir vor, „im Bereich eines Parkscheinautomaten ohne gültigen Parkschein“ geparkt zu haben (§ 13 Abs. 1,2, § 49 StVO; 63.1 BKat). In beiden Fällen handelt es beim Kürzel BKat nicht etwa um einen Besonderen Katalysator, sondern um den Bußgeldkatalog. Wie Sie freundlich hinzufügen,wurden die Ordnungswidrigkeiten „tateinheitlich (§ 19 OWiG) bewertet“.
Um es gleich zu sagen: Ich habe das mir von Ihnen auferlegte Bußgeld von 40 Euro zuzüglich einer Bearbeitungsgebühr von 20 Euro und 3,50 Euro an geltend gemachten Auslagen überwiesen, allerdings nicht, wie von Ihnen vorgeschlagen, auf dem mitgeschickten Zahlungsformular  – nur nebenbei: wie teuer war diese Hilfeleistung? –, sondern per Online, worauf Ihre Bußgeldstelle hoffentlich schon eingerichtet ist, obwohl der Kanzleistil Ihres Schreibens das Gegenteil vermuten lässt.
Trotzdem aber und trotz einem halben Dutzend Paragraphen, die Sie zitieren, drängt es mich, Sie zu fragen, wie ich – um Himmels willen – mit einem Auto, das gerade einmal vor einem Jahr zugelassen wurde und mit einem entsprechenden Katalysator ausgerüstet ist, parkend, also doch wohl nach allem Menschenverstand nichtteilnehmend, am Verkehr teilgenommen haben soll. Dabei bin ich noch bereit, die telefonische Auskunft aus Ihrem Hause (ungefähr: „Keine Plakette, kein Katalysator, basta...“) zu schlucken; davon abgesehen ist Ihre wundersame Kombination der §§ 19 OWiG; 41 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage 2 StVO; 24 StVG BKat sowie 13 Abs. 1,2, 49 StVO; 63.1 Kat nebst Hinweis auf die Tateinheitlichkeit  nach 19 OWiG offensichtlich ein totgeschossener Hase, der in der brütenden Hitze eines Hochsommertages im Grunewald Schlittschuh läuft.
Übrigens wollte Kurt Tucholsky schon der Obrigkeit seiner Tage klarmachen, dass es niemandem gut tat,  wenn sie über die Köpfe der Bürger hinwegredete, auch dem Staat nicht. Sie werden sich erinnern, Tucholsky war jener Berliner Literat, der aus Sehnsucht nach der Berliner Luft im schwedischen Exil Hand an sich legte. Wenn Sie eines Tages genug Strafmandate kassiert haben, sollten Sie seine Werke aufkaufen und an Ihre Mitarbeiter verteilen.
Deutsch mit Tucholsky wäre nicht die schlechteste Weiterbildung.
Mit verbindlichen Grüßen
Jost Nolte

Reminiszenz: ALS ALLES HIN WAR

„Immer mehr Städter graben und ernten in Nachbarschaftsgärten. Dabei geht es nicht nur um das gemeinsame Buddeln in der Erde, sondern um Orte der Begegnung.“ (FAS Nr. 41 vom 17. Oktober 2010,  S. 59) Hier eine etwas ältere Erinnerung an Gartenutzung.
DIE KIELER BOLLHÖRN: WO VORHER UNSER HAUS STAND
     Foto: Kriegsschauplatz Kiel, Luftbilder der Stadtzerstörung 1944/45
AKTIV: ARBEIT AN DEN GRASWURZELN               
                                                                                    Foto:Schikkus
CONTEMPLATIV: FRÄULEIN IN DER HÄNGEMATTE
                                                  Deutsches Historisches Museum, Berlin
Der Bildband Kriegsschauplatz Kiel des Historiker Jürgen Jensen ist 1989 im Wachholtz Verlag, Neumünster, erschienen. Den perfiden Reiz des Zerstörten üben auch die Postkarten aus dem Berliner Historischen Museums und dem Schikkus Verlag, ebenfalls Berlin, aus

Samstag, 16. Oktober 2010

Morgengrauen

Der Morgen graut.
Was er bringt,
bleibt abzuwarten.

Ob am nächsten Tag
die Sonne aufgehe,
sei zweifelhaft,
sagte Karl Popper.

Reist Helios heute an?

jn, 16. Oktober 2010

Freitag, 15. Oktober 2010

Der liebe Gott und das Zuchthaus

Bei Herrmann Mostar (1901-1973), dem berühmtesten Gerichtsreporter in der Nachkriegszeit und in den frühen Jahren der Bundesrepublik, gibt es irgendwo eine Szene, in der ein Richter einen Zeugen vereidigen will und ihn fragt, ob er bei Gott oder ohne Nennung des Namens des Allerhöchsten schwören wolle. Der Zeuge antwortet, dass er nicht an Gott glaube, und der Richter antwortet: „Hauptsache, Herr Zeuge, Sie glauben ans Zuchthaus.“
Der Beweis für unverwüstlichen Juristenhumor fällt mir letzter Zeit  häufig ein. Dafür sorgen die bis zum Überdruss strapazierten  christlich-jüdischen Wurzeln in der gegenwärtigen Debatte über Islam und Nicht-Islam. Statt dessen wäre es dringlich erforderlich, mehr als floskelhaft über unsere weiteren Wurzeln zu reden. Anfängern empfehle ich, täglich einen Abschnitt des Lexikons der Aufklärung zu lesen (hrg. v. Werner Schneiders, Beck, München 1995)
jn, 15. Oktober 2010

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Scoop vs. Eigentlichkeit vs. Scoop

Eine Schlagzeile und ein erster Satz: Fliegt hier bald alles in die Luft? Und: Was ist eigentlich los in Stuttgart? Der Leser ergänzt: Nicht nur in Stuttgart, sondern ähnlich oder auch ein wenig anders in Hamburg, wo die für die Kulturpolitik verantwortlichen Politiker durchdrehen. Oder in Neukölln, wo die Jugendkriminalität die Richterin Kirsten Heisig zur Verzweiflung getrieben, aber weder ihr Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, noch ihr Freitod bis dato sichtbaren Wandel in Gang gesetzt hat. Oder was ist eigentlich los in den Köpfen Thilo Sarrazins, seiner Anhänger und seiner Gegner? Dies alles auf einmal und ziemlich verstreut in der Republik und eben auch in Stuttgart. Doch wenigstens dort können wir seit heute morgen etwas klarer sehen. Zum seltsamen Aufruhr um den Stuttgarter Bahnhof nämlich hat jetzt dankenswerter Weise der Verleger Michael Klett Auskünfte erteilt, die geeignet sind, uns beim Aufräumen unserer Vorteile zu helfen.
MICHAEL KLETT
       foto: Klett-Gruppe.de
Michael Klett, Jahrgang 1938, Familienoberhaupt der Kletts, die seit 200 Jahren in Stuttgart leben, sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Ernst Klett AG mit ihren bestens renommierten Verlagen Klett und Cotta, erinnert sich, wie ihm vor sechs Jahrzehnten sein Großvater, Jahrgang 1863, die Trümmerwelt erläuterte, die ihnen in jenen Nachkriegstagen vor Augen lag, und wie sich „der alte Herr mit Zwicker und Vatermörder im schwarzen langen Mantel, mit zerschlissenem Hut und seinem obligaten Tropfen an der Nase“ ereiferte, dass der famose Stuttgarter Bahnhof  nie und nimmer hätte an dem Platz gebaut werden dürfen, an dem er von 1914 bis 1928 errichtet worden war. Der Bahnhof hätte vielmehr an den Neckar gehört, denn „damit hätte man der Talenge Raum für die Entwicklung der Stadt gegeben“, und die Stuttgarter hätten dem Projekt nicht einen wundervollen Park opfern müssen.
Die Verteidigung des Stuttgarter Bahnhofs ein Irrtum? Die Geschichte klingt nun plötzlich nach einem Schwabenstreich, vergleichbar jener Volksbuchszene, in der einem gewissen Veitel aus einem Fuchsloch ein Hase in den als Falle bereit gehaltenen Sack springt, Veitel den Sack zuschnürt, bevor er die zappelnden Beute identifiziert hat, und sie, in ihr ein Ungeheuer vermutend, nach Hause trägt, wo er sich anhören muss:
Potz Veitle! luag, luag, was ischt das?
Es Ohngeheuer ischt e Has.
Was eigentlich los sei? Der Jargon der Eigentlichkeit hat, wie wir von Theodor W. Adorno wissen, seine Abgründe. Aber es gibt ja auch noch Leopold von Rankes Forderung, zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen“ sei. Sehen wir das Eigentliche so, dann geht es darum, den tatsächlichen Ereignissen so nahe wie möglich zu kommen. Für uns Journalisten und nicht nur für uns heißt dies, unverdrossen nach den Wurzeln zu graben. Und wer etwas von Bedeutung als erster ans Licht bringt,  landet einen Scoop; so heißt es im Journalistenjargon. Laut PONS, dem Sprachportal des Klett Verlages, ist ein scoop eine Schaufel, eine Schippe, ein Schöpflöffel, ein Messlöffel oder Ähnliches. Die Schaufel oder den Löffel müssen wir so lange ansetzen, wie wir hoffen können, mit der Wahrheit voranzukommen. Den Rest müssen wir den Historikern überlassen.
Ihnen liefert jetzt wiederum ein Journalist Material. Auf seiner Website hat Gerhard E. Gründler unter dem Stichwort Kurzwaren historische Scoops zusammengestellt. Ein beneidenswerter, sehr lehrreicher Einfall, der sich vom Lukas-Evangelium („Es waren Hirten auf dem Felde“) bis zu den Techtelmechteln des VW-Personalvorstandes Peter Hartz mit dem VW-Betriebsrat erstreckt.
Dass auch eine Kindheitserinnerung zum Scoop heranwachsen kann, hat jetzt Michael Klett bewiesen.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Wandel

Der erste Blick in den Himmel,
nachdem das Frühstücksei
sorgsam geköpft wurde.
Der Himmel ist blau.

Früher war der Blick
in den Himmel das Erste
im Taglauf.

Warum der Wandel?

Anmerkung: Die Benennung blauer Himmel ist umstritten. Der Himmel sieht blau aus. Mehr wissen wir nicht.

Montag, 11. Oktober 2010

Kulturkampf an der Elbe


Schlauberger lassen an der Elbe die Muskeln spielen und schüren den Kulturkampf. Zum Beispiel will der Hamburger Erste Bürgermeister Christoph Ahlhaus nach wie vor das Altonaer Museum zusperren und dessen Schätze auf andere Häuser verteilen (Rb. vom 24.09.2010). Diese Absicht begründet er jetzt: „Man kann doch nicht ernsthaft so tun, als ob die Schließung eines Museums, das in der Spitze 30 vollzahlende Besucher am Tag hat, den Untergang des kulturellen Abendlandes in dieser Stadt bedeutet.“ Nicht volltrunken, das denn doch nicht, sondern vollzahlend. Und: Der Untergang des kulturellen Abendlandes in den Mauern der Hansestadt? Wenn die Welt den Bürgermeister richtig zitiert, hat er vor lauter Kraftmeierei offenkundig Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.
Und nicht nur das, er macht auch eine miserable Politik. Denn was sollte ein Stadtoberhaupt tun, wenn es irgendwo nicht wunschgemäß klappt? Richtig, die kluge Spitzenkraft des Gemeinwesens – da passt zur Abwechslung das Wörtchen Spitze – sinnt auf vernünftige Abhilfe, die kaum darin bestehen kann, wegen mangelnden Zulaufs eine Traditionsstätte dem Boden gleichzumachen; vielmehr käme es darauf an, für Attraktion zu sorgen – für Anziehungskraft durch Qualität allerdings, nicht durch Bratwursttheken und Tingeltangel.  Dem Bürgermeister muss das dazu Erforderliche gar nicht selber einfallen; er muss nur Leute finden, die sich auskennen und für das Nötige sorgen.
DIE FLIEGE  foto:jn-Archiv
Womit wir bei Ahlhausens Kultursenator Reinhard Stuth, dem mit der Fliege, angelangt wären. Er sekundiert seinem Chef mit der Behauptung: „Seit zwei Jahren kümmern sich Gutachter, Experten, die Museen selbst  und die Kulturbehörde darum, wie die stadtgeschichtlichen Museen insgesamt besser aufgestellt werden können... Dabei kam auch aus den Museen selbst die Frage auf, ob in Altona noch eine Dauerausstellung sein sollte.“ Der Senator für Kultur redet so unbeholfen wie sein Bürgermeister.
Doch lassen wir das. Wie schon seine Vorgängerin hat Reinhard Stuth also herumgefragt, unter anderem  bei Gutachtern und Experten. Unsereins wüsste gern, wo zwischen Experten und Gutachtern der Unterschied zu erkennen war und um welche Damen oder Herren es sich handelte. Die Namen von Beratern, die jüngst in einem anderen Hamburger Museum dem Direktor beigesellt wurden, berechtigen jedenfalls kaum zu größeren Hoffnungen. Und Museumsleute, denen die Chance geboten wird, auf Kosten anderer das eigene Fell zu retten, sollen dieselbe in den Wind schlagen? Es wäre zuviel verlangt.
Wie wir auch kaum erwarten dürfen, dass Christoph Ahlhaus demnächst das Kunststück lernt, die richtigen Leute auf den richtigen Platz zu setzen – bekanntlich eine Regel, die im politischen Geschäft auch und gerade in schwierigen Zeiten zu beherzigen bleibt. Diese Regel gilt für das Museum in Altona, sie gilt für das Deutsche Schauspielhaus, sie gilt für die Öffentlichen Bücherhallen, wo überall den Leuten das Wasser gleichermaßen bis zum Hals steht, und sie gilt für den Senat höchstselbst. Gebraucht wird eine von Grund auf bessere Kulturpolitik.
Leider verbietet es sich, sie dem zugereisten Ahlhaus und seinem Gehilfen in der Kulturbehörde abzuverlangen. Die nächsten Bürgerschaftswahlen sind an der Alster zwar erst Mitte Januar 2012 vorgesehen. Doch darauf wetten, dass das schwarzgrüne Regime in der Hansestadt so lange zusammenhält, mag niemand.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Poul Gernes: bunt, bunter am buntesten

Flächen, Scheiben, Flaggen, Schiffe, Torten: Poul Gernes
                                                               foto:jn  
Das ist Kunst von fröhlicher Wahllosigkeit. Andere haben beeindruckend Tiefsinn in abstrakte Linien und Flächen implantiert und für Verwirrung gesorgt, indem sie die Abgründe gleich wieder in Abrede stellten. Es funktionierte auf immer noch nicht befriedigend erklärte Manier, obwohl zum Beispiel die Amerikaner Barnett Newman und Mark Rothko mit dem Colorfield Painting schon bald nach Hiroshima ihren Ruhm begründeten. Der Däne Poul Gernes (1925-1996) führte keinen Kalten Krieg gegen den Sozialistischen Realismus mit den Waffen der bildenden Kunst, er raunte nicht von tieferen Wahrheiten und wollte niemanden bekehren. Er wollte seinen Spaß haben und das Publikum aufheitern. Wie das gelingen konnte, zeigt jetzt die Hamburger Große Deichtorhalle an Wänden voller Buntem. Darunter befindet sich einiger Tinnef. Zum Beispiel zerdetschte Torten aus Gips und aus demselben Material ein Rübezahl-Kopf, der als Selbstporträt ausgegeben wird. Was aber in Farben aus der Lackierwerkstatt von oben leuchtet oder im Wege steht: Schießscheiben à la Jasper Johns, Flaggentafeln wie aus dem Lexikon, ein Kirschbaum mit davonflatternden Kirschblüten in simpelster Manier, Seelenverkäufer von Booten, eine blau-rote Mauer aus Pappkartons und was immer sonst... – es erfüllt seinen Zweck, es amüsiert. (Bis zum 16. Januar 2011)
jn, 10 Oktober 2010

Schnappschuss

Oktobersonnentag am Elbstrand                                                    foto: jn

Des Volkes wahrer Himmel am 9. Oktober 2010 gegen 17 Uhr am Elbstrand. In der Innenstadt schlagen Demonstranten zehn Thesen gegen das Sparpaket des Hamburger Senats an die Tür der hanseatischen Finanzbehörde. Die Kultur leidet am lautesten. Ein 26-jähriger Oberfeldwebel vom Fallschirmjägerbataillon 313 aus Seedorf/Niedersachsen ist in Po-e Khomri nahe Kundus einem Selbstmordattentat zum Opfer gefallen. Bundeskanzlerin und Bundesverteidigungsminister sprechen den Leidtragenden das Beileid aus. Auf der Ostsee brennt eine Fähre. Auch die Bundesmarine eilt dem Schiff zur Hilfe. Niemand weiß, ob der Dissident Liu Xiaobo in seiner Gefängniszelle in Jinzhou/Liaoning schon erfahren hat, dass ihn in Oslo ein Komitee aus vier Norwegerinnen und einem Norweger mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet hat. Unterdessen geht der Zank um Thilo Sarrazins Behauptung weiter, Deutschland schaffe sich selber ab. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler springt dem Unruhestifter erneut zur Seite: Die Kritiker sollen endlich umschalten und über die Probleme reden, die Sarrazin auf den Tisch geworfen hat. Und Stuttgart 21? Ach ja, die Stuttgarter sind erstaunliche Leute; zu ihrer Obrigkeit fällt niemandem etwas Neues ein. Auf den Strand der Elbe aber scheint die Oktobersonne, und alles andere ist weit weg. Sehr weit.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Christlich-jüdische Wurzeln

GRABSTEINE IN TREBLINKA                           Foto: deathcamps.org

Das zweite Glied steht auf zum Sturm bereit, die Lanzen gefällt in Richtung Schloss Bellevue. Zielscheibe ist die Brust des Präsidenten, der doch  Parteifreund ist. Christian Wulff hat gesagt, wie Christentum und Judentum gehöre der Islam „inzwischen auch zu Deutschland“. Den Rettern eines christlich-jüdischen Selbstbegriffs in der Union geht der Satz zu weit. Darum lärmen sie. Wolfgang Bosbach steht als Rottenführer zur Verfügung, und das ist das einzige, was beschwichtigen mag. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag gilt als Mann mit Augenmaß, weshalb zu hoffen bleibt, dass er das Schlimmste verhindert.
Darüber hinaus: Christlich-jüdische Wurzeln? Gehören sie wirklich ins Bild, das die Deutschen von sich selber zur Schau stellen sollten?
Zum einen:  Historisch betrachtet, müsste wohl jüdisch vor christlich stehen, denn das Alte Testament ist bekanntlich älter als das Neue Testament. So aber bringen die Floskel im Land,  aus dem Güterwagen der Reichsbahn die Opfer nach Auschwitz, Sobibor oder Majdanek befördert haben, nicht einmal Glaubenskrieger über die Lippen.
Zum andern: Was ist mit der viel beschworenen Würde des Amtes des Bundespräsidenten? Zählt sie plötzlich nicht mehr?
Zum dritten: Was wird aus den Ungläubigen hierzulande? Muss unsereins lediglich Duldung beantragen, oder sollen wir auf der Stelle die Koffer packen?
jn, 7. Oktober 2010

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Unkoscher

Die Sache mit der Jüdin von Sötenich – „so koscher wie eine Portion Kassler“ – hat Henryk M. Broder aufgespießt. Wer sonst? Zu berichten wusste er, von einer Kölnerin namens Edith Lutz, die „vor vielen Jahren zum Judentum konvertiert“ sein wollte, kürzlich als Blockadebrecherin gen Gaza gedampft sei und deswegen eine Menge Lob als Aktivistin besonderen Ranges geerntet habe. Denn: Viele glaubten an den Glaubensübertritt, auch die Redaktionen von Taz und Monitor. Broder hingegen nicht, und als er seine Quellen abgeklappert hatte, sah er seine Zweifel bestätigt. Heute steht im Morgenblatt, wer alles blamiert ist. Sonia Mikisch von Monitor gebührt die saure Gurke für den peinlichsten Versuch, sich herauszureden. Dem Goi ziemt Zurückhaltung: Amüsiert ist er.
Übrigens, verehrter Henryk Marcin Broder: Marcin gleich Martin ist der Name eines der berühmtesten katholischen Bischöfe sowie des Wittenberger Reformators und soll sich vom römischen Kriegsgott Mars herleiten. Nicht ein bisschen Jüdisches also. Haben Sie Ihren zweiten Vornamen deswegen auf M. reduziert?

Montag, 4. Oktober 2010

Nicht gelesen: Fritz J. Raddatz

Giftmolch und Pfau in einer Person unterwegs. Oder: Fritz J. Raddatz über anderer Leute Eitelkeiten: Tagebücher1982-2001 (Rowohlt, Reinbek 2010, 34,95 €). Ein Witz auf 944 Seiten? Truman Capote hat es vorgemacht. Wenn es denn der Selbstbefriedigung dient...
jn, 4. Oktober 2010

Staatsmoral (I): Selber lesen

Gäbe es bei uns einen Preis für die wichtigste Moralpauke der Saison, wüssten wir längst, wer ausgezeichnet würde: Thilo Sarrazin für sein Buch Deutschland schafft sich selber ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Allerdings haben sich mindestens drei weitere Kandidaten zu Wort gemeldet: Peer Steinbrück mit Unterm Strich, Roland Koch mit Konservativ – Ohne Werte und Prinzipien ist kein Staat zu machen und die Richterin Kirsten Heisig, die mit ihrem eigenen Leben dann keine Geduld mehr hatte, mit dem Ende der Geduld. Der Preis könnte auf den Namen des Bußpredigers Savonarola getauft werden, den das Volk von Florenz erst in den Himmel hob und nachher hängte, um ihn anschließend zu verbrennen und seine Asche in den Arno zu werfen. Aus Gründen erträglicher Dosierung stehen unter den Kennmarken Staatsmoral II-IV  Steinbrück, Koch und Heisig demnächst auf dem Programm der Randbemerkungen; heute geht es um Sarrazins Deutschland schafft sich selber ab (DVA, München 2010 463 S., 22,99  €, siehe auch meine Einträge vom 3., 6. und 8. September)
Ein Vorspruch der nicht abschrecken, sondern lediglich warnen soll: Das Buch ist so sperrig wie sein Titel. Wie sich herumgesprochen hat, handelt es vom Intelligenzquotien­te­n der Nation.Thilo Sarrazin sieht ihn bedrohlich im Schwinden begriffen und führt ihn partiell auf die Zuwanderung fremder Völkerschaften zurück. Dabei frönt er hemmungslos seiner Vorliebe für Substantive und greift sich vom laufenden Band Zitate und Statistiken, um sie seinen Lesern um die Ohren zu schlagen. Die Pointe liefert jeweils die gemessene Durchschnittsintelligenz. Wer aber die angebotenen Daten persönlich nimmt, dem drängt sich der peinliche Eindruck auf, da behaupte jemand, der Nachwuchs unter dem eigenem Dach werde immer blöder. Daher die nicht enden wollende Aufregung landauf, landab. Gegen sie hilft dann nur die gefestigte Überzeugung, dass du und ich und alle anderen vom Mittelwert die Ausnahme sind, weil dieser Wert nun einmal auf kein Individuum oder nur zufällig auf dieses oder jenes deckungsgleich zutrifft. Als Hilfsargument sei empfohlen, dass sich offensichtlich alle Leute von allen Leuten und sogar eineiige Zwillinge voneinander unterscheiden, und das unabhängig vom Bildungsgrad, von der Zahl der Kinder und Enkel und vom Wohnsitz im Villenviertel oder im Ghetto. (Über Sarrazins Familienleben weiß ich nicht mehr, als dass er verheiratet ist und zwei Söhne hat; er sollte der Einfachheit halber zu Hause mit der von ihm gewünschten jährlichen Erhebung voneinander abweichender Intelligenzpunkte beginnen.)
DVA, 464 S, 29,99 €
Dreizehn Auflagen oder 1,1 Millionen verkaufte Exemplare innerhalb eines Monats verdankt Thilo Sarrazin also weder seinen Thesen, gegen die es Schlagkräftiges einzuwenden gibt, noch seinem Stil, der gewöhnungsbedürftig bleibt. Vielmehr ergibt sich der Erfolg, ob geplant oder nicht, aus einem probaten Mechanismus: Der Fuchs Sarrazin bricht in den Hühnerhof einer Gesellschaft ein, die sich aus diversen Gründen selber unheimlich geworden ist und das Schlimmste befürchtet. Wie dieser Autor auftritt und Widersachern die Stirn bietet, lässt sich vermuten, dass er das sagt, was in der Luft liegt, ob sein Publikum ihn nun richtig versteht oder nicht. Zum  Beispiel sagt er, dass zuwandernde Völkerschaften Probleme einschleppen. Kommen die Migranten etwa nicht von Gott-weiß-wo her und stellen die seltsamsten Ansprüche? Im Beifall geht erwartungsgemäß unter, dass auch Sarrazin Bereitschaft zeigt, darüber zu reden, wie Türken, Araber, Afghanen und Russen ihre Ansprüche rechtfertigen können, wenn sie sich nicht länger auf pure Nächstenliebe verlassen wollen. Sarrazin sagt:  „Ein Konzept, das auf mehr Teilhabe- und Verwirklichungschancen setzt, muss nicht notwendig  als Forderung nach mehr Umverteilung interpretiert werden. Die beste Chancenvermehrung findet daher durch Aktivierung  jedes einzelnen Menschen und seiner Kräfte statt. Wer Amartya Sens Armutsbegriff umfassend interpretiert, müsste eine Armutsstrategie, die im Wesentlichen auf Umverteilung materieller Güter zielt, eigentlich als unzureichend – nämlich als nicht nachhaltig – empfinden.“ (S. 110)
Ein Aufruf zur Debatte, gar zur Verständigung?
Lediglich etwas aggressiv-verschwiemelt vorgetragen?
Es klingt ganz danach.
Wer zum Teufel aber ist Amartya Sen?
SAVONAROLA AUF DEM MARKT VON FERRARA   foto: jn-archiv
Zum Glück haben wir im restlichen deutschen Geistes- und Kulturleben einen Kollegen, der uns alles erklären kann. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat selber ein kluges Buch über ein angrenzendes Problem geschrieben: Das Methusalem-Komplott, in dem er die progressive Vergreisung der Gesellschaft  untersucht. Daher kennt sich Schirrmacher in der Literatur aus, auf die sich Sarrazin stützt, und er nutzt seine Kenntnisse weidlich beim Befragen des Gesprächspartners nach dessen Quellen. Das auf zwei Zeitungsseiten ausgebreitete Ergebnis ist geeignet, die absatzfördernde Unruhe wachzuhalten, wobei Sarrazin selber einräumt, dass er sich mit einem mulmigen Gefühl in dieses Interview begeben hat: Angesichts heftiger Angriffe richte ihn der Beifall des Publikums gewiss auch auf. Aber: „...die Intensität der positiven Emotionen beunruhigt mich auch etwas.“
Mehr nicht zum unangenehmen Applaus von verdächtiger Seite?
Nach einigen Zeitungsspalten des Dialogs über die Quellen versucht Frank Schirrmacher noch einmal, den Bußprediger zu stellen: „Sie schreiben, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe man über dysgenische und eugenische Prozesse nicht mehr gesprochen. Aber sie erwähnen nicht, warum das so war – schließlich war da etwas zwischen 1933 und 1945... Es muss doch einen Grund haben, dass Sie das nicht erwähnen? Und zwar gerade, wenn Sie von der wissenschaftlichen Evidenz überzeugt sind. Sie können doch auch von der Spaltung des Atoms nicht sprechen, ohne Hiroshima zu erwähnen?“
Wieder verharrt Sarrazin im Nebulösen und verschanzt sich hinter Zitaten. Wie es aussieht, will er partout nicht mit der Sprache heraus.
Ein Rassist?
Eher nicht; nur ein bisschen vernagelt.
Das Prinzip einer absatzfördernden permanenten Aufregung? Es wäre nicht unklug, die Debatte jetzt sich selber zu überlassen. Die Gemüter sind eingestimmt, der Widerspruch hat sich eingespielt, der deutsche Wortschatz hat bereits Zuwachs – von Sarrazinaden ist die Rede. Der Savonarola-Preis wäre zweifellos fällig. Widersprüche richten in diesem Stadium der Auseinandersetzung erfahrungsgemäß nur noch wenig aus. Und: Thilo Sarrazin sagt ja auch Richtiges, und dass er einer heilsamen Debatte Bahn gebrochen hat, wird sein Verdienst bleiben. Zu empfehlen bleibt nur noch, das Buch genau zu lesen – nicht nur die Kapitel 3, 6 und 8, sie allerdings mit besonderer Skepsis.
jn, 2. Oktober 2010