Freitag, 26. Februar 2010

Der Zeitzeuge Viktor Klemperer

Ein mehr als sechs Jahrzehnte anhaltender Bucherfolg ist zu würdigen: Victor Klemperers Kritik am Nazijargon mit  dem nach wie vor eher befremdlichen Titel  LTI  oder Lingua Tertii Imperii, auf Deutsch Die Sprache des Dritten Reichs,  die zuerst 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen ist,  hat es nun im Stuttgarter Reclam Verlag, bis in die 24. Auflage geschafft. Darüber hinaus: Es handelt sich nicht einfach um eine weitere Ausgabe des berühmten Buchs, sie erscheint vielmehr mit einem Anhang von nicht weniger als 80 Seiten, in dem die Historikerin Elke Fröhlich der mittlerweile dritten oder vierten Generation von Lesern zeigt, was in zeitgeschichtlicher Aufarbeitung eine Harke ist. Zu berücksichtigen ist dabei von vornherein ein erstaunliches Phänomen:  Von den annähernd 280.000 Exemplaren der Auflagen 1 bis 23 sind etwa eine Viertelmillion in der ver­flossenen SBZ/DDR und nur an die 30.000 in Westdeutsch­land an die Leser gekommen, während sich die Gelehrten sich bis dato nicht darüber einigen konnten, um was für ein Buch es sich eigentlich handelt.
Faszinierend und beklemmend zugleich ist die Entstehungsgeschichte:  Victor Klemperer, Sohn eines Rabbiners, geboren 1881 in Landsberg an der Warthe,  tritt gleich zweimal – 1903 und 1912 – zum Protestantismus über. 1906 heiratet er die Pianistin Eva Schlemmer, die Tochter eines ver­krachten evangelischen Landwirts aus Ostpreußen. Sowohl seine Familie als auch die morphium­süchtige Schwiegermutter haben versucht, die Ehe zu ver­hindern, aber das Paar hält zusammen, und die sogenannte Mischehe schützt Klemperer vor dem Zugriff  der Gestapo, als er  auf Hitlers Befehl vom Januar 1933 an wieder als Jude gilt und 1935 vom Lehrstuhl des Professors für Romanistik an der  Dresdener Technischen Hochschule gejagt wird, auf den der Schüler Karl Vosslers 1921 berufen worden ist.  Die Nürnberger Gesetze nehmen den Klemperers  die Luft zum Atmen, die deutschen Mitmenschen, nicht nur Hitlers Partei­genossen,  treiben sie mit Gemeinheiten zur Verzweiflung, während Schergen mit Namen Heydrich oder Eichmann die Schoah in die Wege leiten. 1940 werden Viktor Klemperer und seine Frau aus ihrem Haus geworfen  und in ein Quartier für Juden gesperrt, aus dem sie erst ent­kommen, als alliierte Bomber im Februar 1945  Dresden zerstören.
Klemperers Leben war schon vor 1933 für ihn ein unerschöpfliches Thema. In den Jahren der Verfolgung und der Todesangst hält er sich intellektuell am Leben, indem er unentwegt schreibt. Er verfasst ein Curriculum vitae über seine Jahre von1881 bis 1918, und er setzt Tagebücher vom November 1918 über den Dezember 1932 hinaus bis zum  Juni 1945 fort. Das Curriculum füllt zwei Bände mit zusammengerechnet 1312 Seiten. Nach 1666 Tage­buchseiten bis Dezember 1932 bringen es die persönlichen Notizen in der Nazizeit auf 1534. Da ist unverkennbar ein Grapho­mane am Werk. Der Grundton ist gemischt aus der Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt und dem Mitleid des Autors mit sich sel­ber. Der Leser hält sich vor Augen, sich, dass Klemperer über unsägliche Verbrechen berichtet, die an ihm und anderen begangen worden sind, und  dass er wie seine Schicksalsgenossen jedes Recht auf seine Gefühle hat. Ein Recht, sie ihnen streitig zu machen, gibt es nicht. Trotzdem zerrt  der Ton an den Nerven.
Mit der LTI hat der Leser dieses Problem nicht. Zwar beschäftigt sich Klemperer abermals mit seinem Alltag in den Jahren der Nazi-Herrschaft, aber erstens ufern die Schilderungen hier nicht aus, und zweitens ist er auf der Suche nach dem Thema, das ihm nicht nur als Überschrift dient, sondern ihm auch – so Klemperer selber – als „Balancierstange“ dient. Sein Versuch, die Abgründe der Sprache aufzudecken, mit der Hitler und Goebbels die Deutschen erst zur nationa­listischen Hybris verführt und dann in die Katastrophe gelockt haben, ist und bleibt überaus spannend, aber das Unterfangen scheitert schon im Anlauf. Denn der Philologe Klemperer stößt auf die Schwierigkeit, dass die Nazis zu Propagandazwecken keine neue Sprache aus der deut­schen Scholle stampfen konnten, sondern sich gezwungen sahen, ein vorgefundenes Vokabular so lange zu verdrehen und zu verbiegen, bis es für ihre Zwecke taugte, und mehr als einmal stellt sich heraus, dass sie nicht einmal die ersten waren, die ein Wort umgewertet haben.
Das Paradebeispiel findet sich auf Seite 70 ff: Klemperer hat schon 1940 im Tagebuch notiert: „Seminarthema: feststellen lassen, wie oft fanatisch und Fanatismus an offizieller Stelle gebraucht wird.“ Drei Jahre später kapituliert er angesichts dieser Aufgabe: „Der Gebrauch ist Legion, fanatisch kommt so häufig vor wie Töne im Saitenspiel, wie Sand am Meer.“  Und immer oder fast immer soll der Fanatismus den Nationalsozialisten zieren. Doch dann zeigt sich, dass schon die französischen Revolutionäre von 1789 das Wort, das traditionell eine schlimme Leidenschaft bezeichnet, zur kämpferischen, zur heroischen Parole umgemünzt haben. Was am Ende als erwiesen gelten kann,  nämlich dass Goebbels & Co. von fanatisch und Fanatismus im positiven, nicht-pejorativen Sinn „quantitativen Höchstgebrauch“ gemacht haben, ist weniger, als zu erwarten war, aber der Weg, der zu diesem Resultat führt, lohnt die Mühe.
Um den Kalamitäten der Wortgewichtung auszuweichen, erfindet  Klemperer etwas, was zu seinen Gunsten seit Jüngstem „soziolinguistische Analyse“ genannt wird (Elke Fröhlich in ihrem Nachwort, S. 415). Das hieße: Zur LTI gehören nicht nur Wörter, sondern auch die Architektur Albert Speers, die Aufmärsche zu den Reichsparteitagen in Nürnberg und die Uniformen. Das dürfen wir getrost so sehen; dass es uns voranbringt, bleibt zu bezweifeln.  Es läuft darauf hinaus, dass der Nationalsozialismus soetwas  wie ein Gesamtkunstwerk gewesen sein könnte, was auf ein wissenschaftliches  Glasperlenspiel hinausliefe, von dem wir besser die Finger lassen.
Außerdem bringt es uns aufs Braunhemd der SA, und der Gedanke daran ist Klemperers Nachruhm leider abträglich. In der LTI vergleicht er das Braunhemd mit dem Schwarzhemd der italienischen Faschisten, woran zunächst nichts auszusetzen ist.  Nur leider ist Viktor Klemperer, nachdem er die Professur zurückerhalten hatte, im Hörsaal im Blauhemd der FDJ aufgetreten. Die eindeutige Reaktion von Augenzeugen hatte er sich selber zuzuschreiben.  Sie lautete: „Er hätte doch wissen müssen, was er da anzog, gerade er“ (der Publizist Klaus Geitel, seinerzeit Romanistik-Student in Halle). Dass Victor Klemperer nach dem Mai 1945 seine Sprachsensibilität verlor und „in beinahe tragisch anmutender  Weise einem ideologischen Irrtum“ erlag, ist Elke Fröhlichs Version dieses Kapitels seines Lebens. Es war und blieb ein Makel. Daran, dass die LTI ein Zeitzeugnis ersten Ranges ist, ändert es nichts.
Jost Nolte


Victor Klemperer
LTI - Lingua Tertii Imperii
416 S., 23,95 €
Reclam, Stuttgart 2010

Montag, 15. Februar 2010

Bazons Unflat

Es ist Zeit, sich Sorgen zu machen um den Ästhetikprofessor und Kunstkritiker Jürgen Johannes Hermann Brock, der 1936 in Stolp/Hinter­pommern/Deutschland (heute Słupsk/Pomorze/Polska) geboren wurde und den die laufende Weltgeschichte dann ins schleswig-holsteinische Itzehoe verschlug,  wo er im Kaiser-Karl-Gymnasium lernte, dass Schwätzer in Homers Griechisch Bazon hieß. Ob der junge Mann daraufhin aus eigenem Antrieb seine kernigen deutschen und biblischern Vor­namen gegen Bazon eintauschte oder ob ihn irgendein Witzbold von Lehrer oder Mitschüler umtaufte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls blieb es bei diesem Kriegsnamen, und der hat Brock wohl eher genützt als geschadet. Der Interpret in allen Gassen der Kunst trug auf Schritt und Tritt Kennerschaft zur Schau; der angenommene Name ironisierte die Pose auf bemerkenswerte Weise und schien Humor zu beweisen. Zuletzt, so weiß die Nation, trat Brock mit dem Pseudonym aus Hellas anno 2008 in der 3sat-Sendung Bilderstreit auf. Dann setzte ihn die Redaktion aus Gründen, die nicht publik wurden, vor die Tür und seinen Widerpart Jean-Christophe Ammann gleich mit.
Ehrlich gesagt, ich vermisse sie noch immer. Zwar spielte der Moderator Brock lieber den Piranha im Goldfischbecken, als zu moderieren, und Ammann verstrickte sich mehr als einmal in schweizerischer Nachdenklichkeit, bevor er höflich ein fundiertes Gegenargument anbot. Nun aber, ohne die beiden, läuft alles ärgerlich glatt. Experten vermitteln dem Publikum den Eindruck, es lerne, mit dem Wahren und Schönen umzugehen, und niemand mag zugeben, dass er sich langweilt.
Schlimmer ist etwas anderes: Die Abwesenheit vom Bildschirm scheint Bazon Brock um Witz und Verstand gebracht zu haben. Beweis: Sein Pamphlet Aufstand der Alten auf Seite 28 der jüngsten Ausgabe der Kunstzeitung, die ihre Herausgeber Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid in 200.000er Auflage Monat für Monat an Museen und Galerien verteilen, wo sie gratis angeboten wird. Das Blatt einzustecken, sei dringend empfohlen, weil in ihm zuverlässige Information und freimütiges Urteil durchweg professionell daherkommen.  Durchweg – das heißt, wir befinden uns im Kunstbetrieb, und auch in der Kunstzeitung tauchen nahezu naturnotwendig die Unarten des Milieus auf, das verblasene Gerede  und der große Zeigefinger. In dieser Übung aber hat Bazon Brock fürs erste den Vogel abgeschossen.
Denn er zetert unflätig über die jungen Kolleginnen Julia Voss von der FAZ und Catrin Lorch von der Süddeutschen, die sich  erlaubt haben, über  eine Retrospektive mit 150 Gemälden und Skulpturen von Markus Lüpertz in der Bonner Bundeskunsthalle anders zu denken als die Ehrengarde des Künstlers.
Der Kunsthändler Michael Werner aus Köln und der Kunsthistoriker und Ausstellungs-Essayist Werner Hofmann aus Wien haben ums Jahr 1970 herum für Lüpertz ihr Wort verpfändet, der Bonner Kunsthallen-Intendant  Robert Fleck, ebenfalls aus Wien,  hat den Schwur im vergangenen Herbst mit seiner Retrospektive abermals bekräftigt, und Bazon Brock aus Stolp war höchstselbst schon immer auf der richtigen Seite: Mit vereinten Kräften haben sie Markus Lüpertz auf den Weg geleitet, auf dem er zum Malerfürsten gereift ist, zu jener bekannten Gestalt, die als Dandy in Perfektion auftritt, aber ziemlich grobe, an Bühnenbild- und Plakatmalerei gemahnende Bilder in Riesenformaten schafft, wobei er wie einige seiner Generationsgenossen eine seltsame Neigung für Kriegsmaterial hegt und pflegt, das in seinem Fall vorwiegend aus Stahlhelmen besteht. 
Catrin Lorch und Julia Voss sind anderer Meinung, und Brock zetert unflätig. Die jungen Kolleginnen sind für ihn wortwörtlich Kunsthostessen, Kunstmarktweiber, Kränzchen-Kritikerinnen, Kunstkommentier-Errynien und zur Abwechslung auch einmal Damen, was selbstredend als Gegenteil von einem Kompliment gemeint ist. Sie haben keine Ahnung und nie ein Buch in der Hand gehabt, vor allem keins von Werner Hofmann oder von Bazon Brock. Dafür tragen sie Brustpanzer und... – lassen wir das.
Unterdrücken wir auch den Impuls, nach dem Krankenpfleger zu rufen, weil da ein alter Mann ins Toben geraten ist, und halten wir stattdessen fest: Anderer Meinung als die Prinzengarde des Malerfürsten durften wir über Markus Lüpertz auch schon sein, als Werner Hofmann an der Alster zum ersten Mal Lüpertzsche Bilder aushängte –  anderer Meinung der Malerei und ihrer Themen wegen. Nach gebotenem Umkehrschluss durfte Hofmann bis heute auf seiner Überzeugung beharren und sie so glänzend begründen, wie es seine Art ist.  So ist es gute Regel. Ein Aufruf zum Aufstand der Alten a la Bazon Brock aber ist nur peinlich. Jemand sollte die Randale abblasen, bevor sie irgendwer ernst nimmt.

Freitag, 12. Februar 2010

Helene Hegemann (3)

Harald Schmidt hat eine gute Tat getan. Er hat sich gestern Abend Helene Hegemann in die Sendung geholt und war nett zu ihr. Die junge Helene, eher pummelig, zappelte vor Aufregung in ihrem Sessel. Von Genie keine Spur, von ärgerlichen Parolen schon gar nicht. Wir sollten ihr jetzt Ruhe gönnen und abwarten, ob sie uns noch einmal literarisch an den Hals springt oder auf den Magen schlägt – möglichst ohne dass ihr der theaterschaffende Vater oder der große Diarrhoetiker Castorf souffliert.

Am Morgen

Ein Falke rüttelt
über verschneitem Sportfeld
Der Kerl hat Hunger

Donnerstag, 11. Februar 2010

Primeln

Der Absatz der Primeln
entwickelt sich zögerlich,
sagt das Lokalblatt.
Der Blick aus dem Fenster
erklärt es. Der Schnee
türmt sich meterhoch
vor der Hecke.

Die Treibhäuser,
so erkennen wir,
bringen die Natur
durcheinander.

Aber das wussten
wir schon.

Mittwoch, 10. Februar 2010

Urheberrechtsexzess

Wir lernen nicht aus. Zwar ist es noch immer nicht ausgeschlossen, dass die 17-jährige Helene Hegemann, die Verfasserin von Axolotl Roadkill, ein Genie ist, und dies ungeachtet der von ihr eingeräumten Tatsache, dass sie hemmungslos fremde Literatur ausgeschlachtet hat – siehe die Randbemerkung Ich habe abgeschrieben von gestern. Doch heute morgen wird der Kenner der Berliner Szene Jürgen Kaube in der FAZ familiär und liefert uns eine unschätzbare Information: Die Autorin, welche die Literaturszene seit Tagen in Atem hält, ist die Tochter von Carl Hegemann, des Theaterschaffenden und Professors für Dramaturgie an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater, der sich seinen Namen unter anderem damit gemacht hat, dass er für den Prinzipal der Berliner Volksbühne Frank Castorf anderer Leute Texte mundgerecht verrührt hat. Castorf  wiederum leidet bekanntlich an unheilbarer Logodiarrhoe, und ihm oder seinem Umfeld ist ohne weiteres der Begriff „Urheberrechtsexzess“ zuzutrauen, mit dem die junge Helene so naseweis wie befremdlich um sich geworfen hat. Kurzum, wenn Jürgen Kaubes Hinweis ins Schwarze träfe, dann handelte es sich bei Helene Hegemann nicht um Genialität, sondern um einen Milieuschaden. Mir täte es leid. Ich hätte gern daran geglaubt, dass uns eine Pauline Verlaine erschienen sei. Dichter oder Dichterinnen mit wildem  Genie sind verdammt selten.

Dienstag, 9. Februar 2010

Ich habe abgeschrieben

Aus: Jost Nolte, Der Feigling, Roman, Bern 2003, S. Fischer, Frankfurt/M 2005:

Die anderen waren in die Zelte verschwunden, und die Scheite des Lagerfeuers glimmten nur noch. Jon Schierling und Armin waren die Letzten, die unter freiem Himmel geblieben waren. Der Wald um sie herum war, was er nachts immer war - ein dunkles, mit fremden Lauten lockendes, undurchdringliches Geheimnis. Nach einer Weile begann Armin zu sprechen. Vor fünf Jahren in Oberschlesien, sagte er, war der Mai genau so schön gewesen. Nur war damals die Luft bleihaltig. Ihn, Armin, hatten die Freischärler mitgenommen, obwohl er nicht älter war als Jon jetzt, gerade einmal vierzehn. Mehr ein Trossjunge als ein Soldat war er, aber er trug Uniform, und mit einem Gewehr konnte er umgehen wie die Alten, die schon in Flandern und Russland und nach Kriegsende im Baltikum und an der Ruhr gekämpft hatten. Mit ihnen war Armin nun gegen die Polen in den Kampf gezogen, um vor ihnen die deutsche Provinz Schlesien zu retten, die sie nach Versailles an sich reißen wollten.
Wie gesagt, ein schöner, ein wunderbarer Mai und, wie es zunächst noch aussah, ein siegreicher Mai, schwärmte Armin. Lernen musste er nur noch, dass er nicht Zielscheibe spielen sollte. Weil Kampf Wille zum Sieg war und nicht hieß, vor lauter Todesmut in den Tod zu rennen. Eines Mittags schien die Sonne so heiß, dass die Freischärler in der Deckung, in der sie lagen, die Uniformen vom Leib rissen und sich nackt im glühenden Sand ausstreckten. Die Waffen hatten sie griffbereit neben sich, aber niemand rechnete damit, dass der Feind auftauchte. Plötzlich kamen die Polen doch. Von einem Waldrand her. Zeit, sich anzuziehen, blieb den Freischärlern nicht. Sie packten die Gewehre, und mit ein paar Salven jagten sie die Polen in den Wald zurück. Sie schossen aus der Deckung, dann kam der Befehl zum Gegenangriff. Nackt, wie sie waren, gehorchten sie.
Nackte, glänzende Jugend in der gleißenden Sonne, sagte Armin, im Wald, zwischen dem Frühlingslaub, schimmerten die schlanken Körper. Es war der beschwingteste Angriff, den wir erlebt haben. Ein Kamerad hat ihn nachher so beschrieben. 
Jon spürte Armins Finger zwischen seinen Schulterblättern. Sie spielten Klavier auf seinem Rückgrat. Dann glitten sie abwärts...

Es stimmt, ich habe abgeschrieben. In meinem Roman Der Feigling, zu dem ein angesehener Kollege und gewesener Freund Modell gestanden hat, gibt es eine ganze Reihe von Szenen, in denen ich mich in vorhandener Literatur bedient habe, schöner Literatur, Sachliteratur, auch wissenschaftlicher.  In seiner Entstehung des Doktor Faustus, dem Essay, den er den Roman eines Romans genannt hat, hat Thomas Mann geschildert, wie es zu dieser Praxis kommt. Er hat es, wie es seine Art war, lehrreich und etwas umständlich erläutert. Für den Hausgebrauch reicht dies: Ein Autor, der Geschichten über Ereignisse erzählen will, bei denen er nicht dabei gewesen ist, ist entweder auf seine Phantasie angewiesen, oder er muss Quellen zu Rate ziehen. Die Phantasie mag genial sein, ihre Beweiskraft lässt allemal zu wünschen übrig. Die Frage, woher ein Schriftsteller die behauptete Kenntnis nimmt, drängt sich auf und bleibt in der Regel unbeantwortet. Andererseits überzeugen Quellen nur dann, wenn der Leser einigermaßen sicher sein kann, dass sie Vertrauen verdienen. Das heißt, er muss die Chance bekommen, die Quellen nachzuschlagen und zu überprüfen. In der Wissenschaft gibt es speziell zu diesem Zweck Fußnoten, in der Belletristik sind sie aus mancherlei Gründen unüblich, und Autoren wie Leser nehmen den Stil als Erweis von Wahrheit – das zu Tage tretende Einfühlungsvermögen des Autors, seinen erzählerischer Elan oder was der guten Eigenschaften von Dichtung mehr sein können. Doch es gibt eine Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem.
Der „beschwingte Angriff“ im Feigling,  siehe oben, berührt sie.  Tatsächlich stammt er nicht von mir, sondern von Ernst von Salomon. Zu finden ist er in dessen leidenschaftlichem Rechenschaftsbericht über die Geächteten aus dem Jahre 1930 auf Seite 286 meiner Ausgabe.
Mit den Geächteten meinte der spätgeborene, der kaiserlichen Kadettenanstalt entsprungene Kamerad und Chronist  die verlorenen nationalistischen Haufen, die  nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Waffen streckten, sondern im Baltikum und in Oberschlesien weiterkämpften. Salomon, gerade einmal 17 Jahre alt, kämpfte an ihrer Seite und beteiligte sich – gewissermaßen als Draufgabe – dann am Mord an Walther Rathenau.  Vor allem dieser Tat wegen vermied ich möglichst den Kontakt mit ihm, als sich unsere Wege nach dem nächsten Krieg in Hamburg kreuzten. 1972 ließ ich mich trotzdem überreden, ihn fürs Zeitmagazin zu porträtieren. Dass er mir während unseres Gesprächs sympathischer wurde, überraschte mich: Da redete alter Mann ohne Punkt und Komma über seine Jugend, mit der er nie  seinen Frieden gemacht hatte – und er tat mir leid. Anschließend fuhr ich in Urlaub. Auf einem Berg in Kärnten las ich in der Bildzeitung, dass Ernst von Salomon gestorben war.
Als ich dreißig Jahre später am Feigling arbeitete, fiel mir die beflügelte Begeisterung des jungen  Kämpfers von 1920 wieder ein, und weil sie mir in den Kram passte, verwendete ich sie. Eine Fußnote passte beim besten Willen nicht zum Text. Mit dem Zusatz „Ein Kamerad hat ihn (den Angriff) nachher so beschrieben“ habe ich den Diebstahl immerhin angedeutet – anstandshalber.
So kann es also mit dem Abschreiben gehen. Jetzt lese ich, dass Plagiate neuerdings als Copy-Paste-Verfahren im Schwange sind. Wenn ich Helene Hegemann, die Verfasserin von Axolotl Roadkill und heute 17 wie damals Ernst von Salomon, richtig verstehe, ruft sie, nachdem sie erwischt wurde, das Klauen als alternative Kreativität und als Recht ihrer Generation aus. Die Kids sollten es nicht übertreiben.  Dass es sich um ein Eigentumsdelikt und noch nicht um Mord handelt, tröstet wenig.

Donnerstag, 4. Februar 2010

Die Sache mit dem Esel, der das Gras frisst


Handelnde Personen:
Daniel Cohn-Bendit, Wortführer der Studentenrevolte, begleitet von einem Rudel von Mitrevolutionären
jn, seinerzeit Redakteur der WELT DER LITERATUR (WDL) und Kollegen, die ihm stumm den Rücken stärken.
Zeit der Handlung: September 1968
Ort der Handlung: der Messestand der WDL auf der Frankfurter Buchmesse.
Inhaltsangabe:
Präsentiert werden die 64 Seiten der Messe-Ausgabe der Literaturbeilage der WELT aus dem Hause Axel Springer. Die Titelseite nimmt ein Foto des Friedenspreisträgers des Jahres ein, des Dichters und Staatsmannes Léopold Sédar Senghor aus dem Senegal. Sein Leben und Werk würdigt der Poet Gaston Bart-Williams aus Sierra Leone auf der dritten Seite. Die übrigen Beiträge stammen größten Teils aus der Redaktion. Der Springer-Boykott der Autoren  zeigt Wirkung. Wir haben von unseren Mitarbeitern einen Korb nach dem anderen bekommen, die meisten mit der wenig tröstlichen Schleife: „Wir meinen nicht euch; es geht ums Prinzip.“ In Blickweite haben die Revolutionäre den Messestand der Zeitschrift  PUBLIK zerlegt. In seinen Trümmern üben sich Redakteure und Verlagsleute in dem ehrenwerten Versuch, Gleichmut zu zeigen.
Daniel Cohn-Bendit, im folgenden DCB, und seine Mannen nebst einigen jungen Frauen sind auf dem Vormarsch. Ich atme durch und harre der Dinge, die da kommen. DCB baut sich vor mir auf und mustert mich skeptisch. Ich mustere DCB. Alte Burschenregel: Wer zuerst mit den Wimpern zuckt, hat verloren.  Oder Tom Sawyer und Huckleberry Finn bei ihrer ersten Begegnung. DCB und ich halten den Augenkontakt durch,  bis DCB loslegt. Er fragt, wie sich ein linksliberaler Intellektueller in den Tagen der Weltrevolution fühle. Es ist rhetorisch gemeint; DCB hat die Antwort selber parat. Er sagt, dass ich mir nach allem, was man über mich höre, in dieser Rolle gefalle, aber sie sei kläglich, und jeder, der sie spiele, gebe ein trauriges Bild ab. Ich lasse  die Attacke ins Leere laufen und warte auf die nächste Frage. Sie kommt prompt: Ob mir klar sei, will DCB wissen, dass der Friedenspreisträger Léopold Sédar Senghor einen mehr als nur fragwürdiges Begriff von der Négritude habe, nämlich einen rassistischen. Diesmal antworte ich. Ich sage, dass ich die Vorwürfe kenne, dass aber Gaston Bart-Williams über Senghor geschrieben habe, nicht ich, und bei uns zähle nun einmal die Weltsicht der Autoren.
„Liberal!“, sagt DCB
„Liberal“, bestätige ich.
„Scheißliberal“, sagt DCB.
„Ihre Ansicht“, sage ich.
In den nächsten zehn Minuten deckt mich  DCB mit einem Trommelfeuer ein: Was, so will er wissen, haben wir in der WDL zu diesen oder jenen Themen wann und mit welcher Tendenz gesagt? Ich sehe hinter DCB die Augen des Rudels blutlüstern leuchten, entschließe mich zu Notwehr und argumentiere, indem ich das Blaue vom Himmel herunterhole. Seltsamer Weise  komme ich damit durch. Plötzlich dreht der Inquisitor ab. Er winkt dem Gefolge, und sie verschwinden. Der WDL-Stand ist heil geblieben. Die Kollegen von Publik verstehen die Welt nicht mehr. Wenn ich ehrlich sein soll, verstehe ich sie ebenso wenig wie sie.
Leider fehlt ein Protokoll des Verhörs. Ich könnte es aus dem Ärmel schütteln, beschließe aber, ehrlich zu bleiben und mich auf das zu beschränken, was ich tatsächlich im Kopf habe. Darauf und auf einen Hinweis auf meinen Bericht zum Abschuss der Messe 1968 in der WELT, den ich buchstäblich verdrängt hatte. Zu meinem größten Missvergnügen habe ich ihn im sogenannten Medienarchiv  wiederentdeckt, das der Axel Springer Verlag ins Netz gestellt hat, nachdem er mangels Interesse auf der Gegenseite mit der Einladung zu einem Springer-Tribunal nach Apo-Art gescheitert war.[1]
Den Einfall hat vermutlich Thomas Schmid gehabt, der gegenwärtige Chefredakteur der WELT. Jedenfalls sah das Projekt  ganz nach ihm aus: Er ist nicht nur ein heller Kopf, es liegt auch nahe, dass es ihn drängte, der Republik zu erklären, wie er seinen originellen Berufsweg von Cohn-Bendits Pflasterstrand, der legendären Sponti-Zeitung, erschienen zu Frankfurt/M von 1976 bis 1990, in Springers Führungsriege seelisch-geistig bewältigt hat. Dabei standen die Zeichen für das Bekenntnis zur eigenen Vita nicht ungünstig. Ernst Cramer, in den Tagen des Studenten-Aufruhrs in Treue fest an der Seite Axel Springers und vom Abgang des Verlegers bis zu seinem eigenen Tod vor wenigen Wochen Graue Eminenz der Medienmacht an der Berliner Kochstraße, hatte eingeräumt, dass die Stahlhelm-Fraktion seines Hauses im Kampf gegen die Apo über die vertretbaren Ziele hinausgeschossen war. Die Erbin Friede Springer und ihr Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner hatten sich Cramer angeschlossen, und so hätte das Tribunal tatsächlich für einen interessanten Abend in Sachen Zeitgeschichte sorgen können. Dass die Überzeugungstäter beider Seiten voller Inbrunst ihre Irrtümer von 1968 bekennen würden, davon konnte in seinem Konvertiten-Eifer allerdings wohl nur Thomas Schmid träumen. Die Genossen von ehedem haben Proteus´ begabtem Schüler prompt die kalte Schulter gezeigt. Nun grollt er ihnen.
Bleibt mein Bericht im WELT-Feuilleton  vom September 68. In ihm steht, Hand aufs Herz, kein unwahres Wort. Aber unsereins soll bekanntlich nicht nur nicht die Unwahrheit sagen, sondern möglichst die ganze Wahrheit, und sie enthält der Kommentar nicht. Der Name Springer nämlich kommt nicht vor. Ich ziehe mich aus der Affaire,  indem ich mich in 160 Zeilen über Taktik und Strategie der Revoluzzer und der von ihnen geplagten Buchhändler und Verleger verbreite, über der einen Zorn und der anderen Leiden. Dass Herbert Kremp, damals Vorgänger Thomas Schmids als WELT-Chefredakteur, die Rotationsmaschinen wutschnaubend angehalten und meinen Text aus der Seite gerissen hätte, wenn ich ein Wort über Springer verloren hätte, wie ich die Dinge damals verstand, ist so gut wie sicher. Aber das ändert nichts. Die Esel haben das Gras weggefressen, und ich geniere mich für meinen Ausflug in die Sklavensprache.



[1] DIE WELT vom 24. 09. 1968, S. 11, www.medienarchiv68.de, Datensatz 4497