Sonntag, 25. Juli 2010

Kleßmanns Goethe

Der Titel kommt ironisch daher:  Goethe und seine lieben Deutschen. Der Untertitel prä­zisiert, worum es geht, nämlich um Ansichten einer schwierigen Beziehung. Eckart Kleßmann, bekannt für genaue historische Auskünfte und dezidierte Urteile über die Mitwirkenden an der Geschichte, sieht nicht zum ersten Mal im Franzosen-Kaiser Napo­leon I. den alle anderen Herrscher überragenden Ausnahme-Politiker seiner Tage und im Preußenkönig Friedrich II., der  bekanntlich auch seine Meriten um die Freiheit und den Fortschritt der Menschheit hatte, nur einen sogenannten Großen. Für Friedrichs stock­steifen Großneffen und zweiten Nachfolger Friedrich-Wilhelm III. und seine verhängnis­voll untüchtige Poli­tik, mit denen Goethe es vor allem zu tun bekam, bleibt da natur­gemäß nur die blanke Verachtung. Der Dichter, den die Preußen-Könige abkanzelten, dem aber Napoleons Wohlwollen leuchtete und dem das erhebende Glück zuteil wurde, mit dem Kai­ser disku­tieren zu dürfen,  dachte ganz ähnlich wie Kleßmann. Der in der Wolle gefärbte, wenn auch durch sein Genie und die Gnade seines Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eise­nach begünstigte Untertan hätte er es jedoch nie und nimmer so deutlich gesagt. Carl August wiederum herrschte nur über rund 2600, noch dazu zerstüc­kelte  Quadratkilome­ter mit etwa 140.000 Bewohnern. Zwar erhob der Wiener Kongress  anno 1815 das Her­zogtum zum Großherzogtum und rundete es auf annähernd 4300 Quadratkilometer und schätzungsweise 217.000 Einwohner auf. Carl Augusts Einfluss auf die Weltpolitik und mit ihm die Wirkungsmöglichkeiten seines Ministers Goethe blieben indes bescheiden. Was die Akten über Goethe im Staatsdienst freigeben, ist folg­lich weniger der Blick auf den Gang der deutschen Geschichte, es ist vielmehr Hinweis auf die Charaktereigen­schaften eines Dichters, der in die Politik geriet.
Die angekündigte schwierige Beziehung wird im Plural verhandelt. Nicht nur zwischen dem Genie und seinen Landsleuten herrscht Unverständnis, es klaffen auch Abgründe zwischen der immer wieder überwältigenden  Qualität der Dichtung und den amtlichen Schriften eines Ministers im fürstlichen Zwergstaat. Wir müssen nicht gleich mit dem gröbsten Geschütz auffahren – mit dem Hinweis auf die Diskrepanz zwischen der Gret­chentragödie und dem gnadenlosen Gutachten, in dem Goethe anno 1783 für die Voll­streckung der Todesstrafe an der unglücklichen Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn plädierte, als der Herzog erwog, die unglückliche Frau ins Zuchthaus statt aufs Schafott zu schicken. Das Thema könnte  den Rahmen der Ansichten sprengen, und also hat Kleßmann verständlichen Grund, darauf zu verzichten. Um so lieber beschäftigt er sich mit die anrührenden Gefühle des Meisters für die im wahren Sinn des Wortes hergelaufenen Christiane Vulpius, an der Damen höheren Standes, Charlotte von Stein nicht anders als Charlotte von Schiller oder  Bettine von Arnim, ihre Bosheit ausließen, während Goethe die Liebe der jungen Frau unbeirrt genoss und sie heiratete, nachdem sie ihn im Haus am Frauenplan vor französischen Marodeuren gerettet hatte –  eine herzerwärmende Geschichte, die das Leben schrieb und die Eckart Kleßmann schon im Jahre 1992 so kenntnisreich und anschaulich nacherzählt hat, wie wir es von ihm gewohnt sind.
Mit anderen Menschen sprang der zu hohen Ehren gekommene Goethe anders um. Er zeigte alten Freunden, die auf seine  Hilfe hofften,  die kalte Schulter. Er lehnte die nachwachsenden Romantiker und die Jungdeutschen in barschem Ton ab, weil sie Kunst und Literatur anders verstanden als er. Er zog über Isaac Newton her, weil der Physiker die Farben nach beobachteter  Spektralanalyse mit der Brechung des Lichts erklärte, während er, Goethe, dank geistigem Auge überzeugt war, dass das ursprünglich weiße Licht unteilbar sei und sich durch Trübung einfärbe. In der Politik half er, den Naturfor­scher Lorenz Oken vom Jenaer Lehrstuhl zu jagen, weil der freisinnige Mann in seiner Zeitschrift Isis die Verfassung von Weimar kritisiert hatte. Dabei war  der Minister Carl Augusts überhaupt gegen Verfassungen, weil sie zu nichts anderem gut seien, als dafür, die Fürsten am Regieren zu hindern, und was die Pressefreiheit anging, so war er über­zeugt, dass nur nach ihr schrie, wer sie missbrauchen wollte. Er riet seinem Fürsten, dem Übermut der Studenten in der Universität Jena Zügel anzulegen, und er war dagegen, über in öffentlichen Angelegenheiten gemäß aller Leute Meinung, also nach dem Mehr­heitsprinzip, zu entscheiden.
Kurzum. Ein Demokrat war er wirklich nicht, und so gut wie jede Ordnung war ihm lieber als die schönste Unordnung. Denn ihm saß die Revolu­tion von 1789 in den Knochen.
Seine lieben Deutschen? Er mochte sie nicht, weil sie ihn nicht angemessen respektierten und seinen Anleitungen zur Pflege der Weltliteratur nicht folgen wollten. Gab es sie überhaupt? Oder gab es nicht lediglich die Preußen und die Österreicher und die Untertanen in Sach­sen-Weimar-Eisenach nebst anderer Kleinstaaterei anstelle einer Nation? Die aller­mei­sten Landsleute waren geringe Geister, die ihm übelnahmen, dass er noch nach der Völkerschlacht bei Leipzig, in der Napoleon in die Knie gegangen war,  das Kreuz der französischen Ehrenlegion am Frack trug. Im tiefen Herzensgrund war ihm nur sympa­thisch, wer ihn verehrte oder ihn gar liebte. Er selber sah die Dinge so: „Ich weiß recht gut, ich bin Vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich Alle sehr gern los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter.“
Eckart Kleßmann  registriert das fragwürdige Verhalten und die zweifelhaften Äußerun­gen des großen Mannes – und führt vor, wie es trotzdem gelingen kann, dem Genie Goethe gerecht zu werden. Wir haben ja zum Glück dessen Werk.                                                             jn, 25. Juli 2010


Eckart Kleßmann
Goethe und seine lieben Deutschen
Ansichten einer schwierigen Beziehung
Die Andere Bibliothek
Eichborn, Frankfurt/M 2010
312 S., 32 €

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