Die anderen waren in die Zelte verschwunden, und die Scheite des Lagerfeuers glimmten nur noch. Jon Schierling und Armin waren die Letzten, die unter freiem Himmel geblieben waren. Der Wald um sie herum war, was er nachts immer war - ein dunkles, mit fremden Lauten lockendes, undurchdringliches Geheimnis. Nach einer Weile begann Armin zu sprechen. Vor fünf Jahren in Oberschlesien, sagte er, war der Mai genau so schön gewesen. Nur war damals die Luft bleihaltig. Ihn, Armin, hatten die Freischärler mitgenommen, obwohl er nicht älter war als Jon jetzt, gerade einmal vierzehn. Mehr ein Trossjunge als ein Soldat war er, aber er trug Uniform, und mit einem Gewehr konnte er umgehen wie die Alten, die schon in Flandern und Russland und nach Kriegsende im Baltikum und an der Ruhr gekämpft hatten. Mit ihnen war Armin nun gegen die Polen in den Kampf gezogen, um vor ihnen die deutsche Provinz Schlesien zu retten, die sie nach Versailles an sich reißen wollten.
Wie gesagt, ein schöner, ein wunderbarer Mai und, wie es zunächst noch aussah, ein siegreicher Mai, schwärmte Armin. Lernen musste er nur noch, dass er nicht Zielscheibe spielen sollte. Weil Kampf Wille zum Sieg war und nicht hieß, vor lauter Todesmut in den Tod zu rennen. Eines Mittags schien die Sonne so heiß, dass die Freischärler in der Deckung, in der sie lagen, die Uniformen vom Leib rissen und sich nackt im glühenden Sand ausstreckten. Die Waffen hatten sie griffbereit neben sich, aber niemand rechnete damit, dass der Feind auftauchte. Plötzlich kamen die Polen doch. Von einem Waldrand her. Zeit, sich anzuziehen, blieb den Freischärlern nicht. Sie packten die Gewehre, und mit ein paar Salven jagten sie die Polen in den Wald zurück. Sie schossen aus der Deckung, dann kam der Befehl zum Gegenangriff. Nackt, wie sie waren, gehorchten sie.
Nackte, glänzende Jugend in der gleißenden Sonne, sagte Armin, im Wald, zwischen dem Frühlingslaub, schimmerten die schlanken Körper. Es war der beschwingteste Angriff, den wir erlebt haben. Ein Kamerad hat ihn nachher so beschrieben.
Jon spürte Armins Finger zwischen seinen Schulterblättern. Sie spielten Klavier auf seinem Rückgrat. Dann glitten sie abwärts...
Es stimmt, ich habe abgeschrieben. In meinem Roman Der Feigling, zu dem ein angesehener Kollege und gewesener Freund Modell gestanden hat, gibt es eine ganze Reihe von Szenen, in denen ich mich in vorhandener Literatur bedient habe, schöner Literatur, Sachliteratur, auch wissenschaftlicher. In seiner Entstehung des Doktor Faustus, dem Essay, den er den Roman eines Romans genannt hat, hat Thomas Mann geschildert, wie es zu dieser Praxis kommt. Er hat es, wie es seine Art war, lehrreich und etwas umständlich erläutert. Für den Hausgebrauch reicht dies: Ein Autor, der Geschichten über Ereignisse erzählen will, bei denen er nicht dabei gewesen ist, ist entweder auf seine Phantasie angewiesen, oder er muss Quellen zu Rate ziehen. Die Phantasie mag genial sein, ihre Beweiskraft lässt allemal zu wünschen übrig. Die Frage, woher ein Schriftsteller die behauptete Kenntnis nimmt, drängt sich auf und bleibt in der Regel unbeantwortet. Andererseits überzeugen Quellen nur dann, wenn der Leser einigermaßen sicher sein kann, dass sie Vertrauen verdienen. Das heißt, er muss die Chance bekommen, die Quellen nachzuschlagen und zu überprüfen. In der Wissenschaft gibt es speziell zu diesem Zweck Fußnoten, in der Belletristik sind sie aus mancherlei Gründen unüblich, und Autoren wie Leser nehmen den Stil als Erweis von Wahrheit – das zu Tage tretende Einfühlungsvermögen des Autors, seinen erzählerischer Elan oder was der guten Eigenschaften von Dichtung mehr sein können. Doch es gibt eine Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem.
Der „beschwingte Angriff“ im Feigling, siehe oben, berührt sie. Tatsächlich stammt er nicht von mir, sondern von Ernst von Salomon. Zu finden ist er in dessen leidenschaftlichem Rechenschaftsbericht über die Geächteten aus dem Jahre 1930 auf Seite 286 meiner Ausgabe.
Mit den Geächteten meinte der spätgeborene, der kaiserlichen Kadettenanstalt entsprungene Kamerad und Chronist die verlorenen nationalistischen Haufen, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Waffen streckten, sondern im Baltikum und in Oberschlesien weiterkämpften. Salomon, gerade einmal 17 Jahre alt, kämpfte an ihrer Seite und beteiligte sich – gewissermaßen als Draufgabe – dann am Mord an Walther Rathenau. Vor allem dieser Tat wegen vermied ich möglichst den Kontakt mit ihm, als sich unsere Wege nach dem nächsten Krieg in Hamburg kreuzten. 1972 ließ ich mich trotzdem überreden, ihn fürs Zeitmagazin zu porträtieren. Dass er mir während unseres Gesprächs sympathischer wurde, überraschte mich: Da redete alter Mann ohne Punkt und Komma über seine Jugend, mit der er nie seinen Frieden gemacht hatte – und er tat mir leid. Anschließend fuhr ich in Urlaub. Auf einem Berg in Kärnten las ich in der Bildzeitung, dass Ernst von Salomon gestorben war.
Als ich dreißig Jahre später am Feigling arbeitete, fiel mir die beflügelte Begeisterung des jungen Kämpfers von 1920 wieder ein, und weil sie mir in den Kram passte, verwendete ich sie. Eine Fußnote passte beim besten Willen nicht zum Text. Mit dem Zusatz „Ein Kamerad hat ihn (den Angriff) nachher so beschrieben“ habe ich den Diebstahl immerhin angedeutet – anstandshalber.
So kann es also mit dem Abschreiben gehen. Jetzt lese ich, dass Plagiate neuerdings als Copy-Paste-Verfahren im Schwange sind. Wenn ich Helene Hegemann, die Verfasserin von Axolotl Roadkill und heute 17 wie damals Ernst von Salomon, richtig verstehe, ruft sie, nachdem sie erwischt wurde, das Klauen als alternative Kreativität und als Recht ihrer Generation aus. Die Kids sollten es nicht übertreiben. Dass es sich um ein Eigentumsdelikt und noch nicht um Mord handelt, tröstet wenig.
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