Die Nation scheint mit der Debatte über ihre Gegenwart und die andrängende Zukunft ausgelastet zu sein. Politrentner, die uns die Lage erklären, halten uns in Atem. Doch nach wie vor wartet auch in den Archiven der Zeitgeschichte Arbeit. Der Verfassungsjurist Ingo von Münch verlangt, dass über die Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 gesprochen wird: Ein Buch (208 S., 19,90 €, Ares-Verlag, Graz) und ein Briefwechsel
Lieber Herr von Münch,
offene Worte können Freundschaften kosten, zumal dann, wenn Schriftsteller sie an Kollegen richten. Ich habe da leidige Erfahrungen. Sie besagen: Auf Kritik so professionell zu reagieren wie Goethe auf Schillers Beanstandungen des Wilhelm Meister, bringen nur wenige fertig – siehe den Briefwechsel der Dioskuren. Doch keine Sorge, ich ziehe nicht gegen Ihr Buch zu Felde, weder gegen die Machart noch gegen Ihre Überzeugungen. Unter der Überschrift Frau, komm! collagieren Sie Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen 1944/45 und damit Taten, die nach heute geltendem Völkerrecht Verbrechen sind und nach Ihrer Rechtsauffassung schon nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 verboten waren. Und: Sie verlangen, dass über diese Taten – wenn sie schon nicht gesühnt werden – wenigstens geredet wird. Sie halten sich an ernstzunehmende Quellen und kommentieren sie angemessen. Trotzdem machen mir einige Fragen zu schaffen, und die haben mit persönlicher Erfahrung zu tun.
Eine Szene, die sich Anfang Februar 1945 im klirrend kalten Pommern abgespielt hat: Unsere Schwadron, sie gehört zum Stolper Reiterregiment 5, erhält den Befehl, ein Dorf zu räumen, in dem sie auf dem Weg zur Front Quartier gemacht hat. Wir satteln die Pferde, sitzen auf und reiten in Richtung Westen. Zurück bleiben Frauen, Alte und Kinder, denen Hitlers Gauleiter verboten hat, rechtzeitig auf den Treck zu gehen. Was geschieht, wenn jetzt die Russen nachrücken, weiß jeder. Dafür hat der Reichspropagandaminister Goebbels schon nach dem Massaker von Angehörigen der Roten Armee im ostpreußischen Nemmersdorf im Oktober 1944 gesorgt, unmittelbar nach den ersten Gewalttaten der Sieger auf deutschem Boden, und diese Untaten wiederholen sich tagtäglich, seit die Rote Armee unaufhaltsam nach Berlin marschiert. Niemand zweifelt daran, dass die Menschen in dem Dorf, das wir im Morgengrauen räumen, das gleiche Schicksal erwartet. Eine Frau läuft der abrückenden Schwadron nach, bleibt schließlich erschöpft und verzweifelt stehen, breitet die Arme aus und schreit: „Ihr könnt uns doch nicht allein lassen!“ Wir haben Befehl, sie allein zu lassen, und wir gehorchen. Was aus dieser Frau geworden ist, weiß ich nicht; wie sie in Eis und Schnee auf der Dorfstraße stand und schrie, habe ich noch heute vor Augen und im Ohr.
Jahre später habe ich mich dann durch die acht Bände der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa gegraben. Die Historiker Theodor Schieder, Werner Conze, Hans Rothfels und andere hatten sie im Auftrag des Bundesministers für Vertriebene Theodor Oberländer erstellt. Der Minister saß in zwei Kabinetten Konrad Adenauers, bevor ihn, wie man es zutreffend nannte, seine Vergangenheit einholte. Den Nazis war er schon 1923 beim Marsch auf die Feldherrnhalle zugelaufen. Im Dritten Reich hatte er ihnen die sogenannte Ostforschung organisiert. Seine Vertriebenenpolitik war so gerade gekämmt wie sein Scheitel. Wie einige seiner Hilfswilligen waren die Historiker Schieder und Conze mit befleckter politischer Weste aus der Diktatur in die Demokratie übergetreten. Rothfels, 1934 als Jude von seinem Königsberger Lehrstuhl gejagt, 1939 emigriert und 1951 nach Deutschland zurückgekehrt, passte insofern in die Gesellschaft, als er streng konservativ dachte und Kommunisten nicht ausstehen konnte. Wie zu erwarten war, schlug dem Gemeinschaftswerk der Gelehrten Misstrauen entgegen, aber sie beherrschten ihr Fach und hatten gelernt, vorsichtiger zu argumentieren als dazumal. Darum hatte Thomas Darnstädt recht, als er im Spiegel befand, die Dokumentation sei “eine der beeindruckendsten Sammlungen über das Elend am Ende des Krieges“.
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Flüchtlingsfrauen im Frühjahr 1945 Foto: Ares-Verlag.com |
Doch die Sammlung war nicht nur beeindruckend, sie war unerträglich, und das nicht so sehr wegen des Verdachts auf Manipulation seitens der Mitwirkenden. (Zum Beispiel blieben die Todesmärsche unerwähnt, auf denen die SS Häftlinge der Konzentrationslager vor der näherrückenden Front hergetrieben hatten und die – nicht nur aus der Vogelperspektive – eine Sonderform der Vertreibung gewesen waren.) Unerträglich waren die versammelten Berichte vor allem deswegen, weil in ihnen eine Gewaltszene nach der anderen Revue passierte und weil die Untaten nicht nur den Opfern den letzten Rest von Würde raubten; sie entwürdigten, auch die Täter.
Heinrich Himmler hatte geschworen, die Vernichtung von Juden, Bolschewisten und anderen Feinden des Nazi-Reichs bleibe für ewige Zeiten ein Ruhmesblatt der SS, und die SS hatte es ihrem Reichsführer geglaubt. Sie war also offenbar im Besitz ihrer Würde geblieben. Allerdings redeten die SS-Leute nicht von Würde, sondern von Ehre. Anders die Bolschewiki. Sie hatten nicht nur Zar, Adel, Bürger und Bauer in der Oktoberrevolution besiegt, sondern auch ihre Mitrevolutionäre, und sie setzten von Stund an alles daran, das Volk zu entmündigen. In den dreißiger Jahren lief Stalin zu patriotischer Form auf, und sein Großer Terror gab den Menschenrechten in der Sowjetunion den Rest. 1941 überfielen Hitler und seine Wehrmacht Stalins Reich, erklärten dessen Bewohner zu Untermenschen und töteten und versklavten sie nach Belieben. Als die Wehrmacht vor Moskau umkehren musste, übernahmen die Kommissare und Propagandisten des Machthabers im Kreml wieder die Regie. Sie verstanden sich auf Gehirnwäsche. Die Rotarmisten, die auf deutschen Boden stürmten, kannten nur noch zwei Gefühle – Hass und aufgestaute Geilheit. Sie waren auf Gewalt dressiert: In dieses Schema, so meine ich, lassen sich die Ereignisse fügen. Die Skizze entschuldigt kein Verbrechen, aber sie erklärt einigermaßen, wie es zu Übergriffen der Sieger und zur Massenvergewaltigung der Frauen kommen konnte und – nach dem Gesetz von Tragödien – wohl sogar kommen musste.
Verehrter Ingo von Münch, die Frage, was Ihr Versuch ergibt, die Massenvergewaltigungen mit Juristenverstand noch einmal anzugehen, müssen Ihre Kollegen in der Fachschaft Völkerrecht beantworten. Ausgeschöpft war die Schreckensgeschichte ganz gewiss nicht, und Ihre Argumente sind aller Ehren wert. Nur stehen der Beschäftigung mit dem Thema instinktive Abwehrreaktionen entgegen: Widerwille, Abscheu, Ekel.
Meinerseits habe ich damals vor den Tatsachen kapituliert, die Oberländers Historiker aufgetürmt hatten. Ich habe das Grauen nicht in den Griff bekommen, das Grauen hat mich geschafft, und ich beschloss, den Stoff nie wieder anzufassen. Diesem Vorsatz aus Notwehr bin ich treu geblieben, bis ich mich jetzt mit Ihrem Buch beschäftigt habe.
Mein Resumee: Es gibt die Darstellungsdefizite, die Sie beklagen, und es gibt nach wie vor blödsinnige Ansichten. Sie arbeiten beides mit der gebotenen Sachgerechtigkeit auf. Doch die alten Gefühle weckt schon das Bild auf dem Titel: Zwei Rotarmisten, Papyrossi im Mund, zerren an einer Frau, der eine hat die freie Hand am Hosenschlitz... Womit ich beim Ares-Verlag angelangt bin. Dass Sie ihm leichtfertig Ihr Buch gegeben haben, haben Ihnen Kritiker schon vorgehalten, und unbedacht war es tatsächlich. Ares war ja nicht nur der griechische Gott des Krieges, sondern auch der „Inbegriff des blutigen Schlachtenmordes und des wütenden Kampfgetümmels“. (So der Kleine Pauly, Bd. 1, Sp. 526.) Anders gesagt: Ares ist der Gott der Kriegsverbrecher, und wer einen Verlag nach ihm benennt, muss sich dabei wohl etwas gedacht haben. Den Leuten in Graz, denen dies eingefallen ist, verstehen sich aufs Büchermachen; ihre Titel sorgen dennoch für Gänsehaut: Sniper – Militärisches und polizeiliches Scharfschützenwissen kompakt. Oder: Panzer – Vom Ersten Weltkrieg bis heute. Das schmeckt nach Landserheft auf höherem Niveau. Oder auch: Carl Schmitt: Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, ein Werkverzeichnis des Staatsrechtlers Carl Schmitt, von dem der Verlag behauptet, er gelte „wegen seiner Kritik an den Verfassungsgrundlagen der Weimarer Republik bzw. wegen seines anfänglichen Engagements für den Nationalsozialismus in gewissen Kreisen (als) umstritten“.
Anfängliches Engagement?
Gewisse Kreise?
Mit diesen Floskeln will der Verlag offenkundig von vornherein klarstellen, dass Alain de Benoist, der Urheber der wissenschaftlichen Handreichung, strikt anderer Denkungsart sei. Lieber Ingo von Münch, die Lehre heißt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern...Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel.
Herzlich Ihr Jost Nolte
INGO VON MÜNCH ANTWORTET
Lieber Herr Nolte,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anmerkungen. Ich wäre froh, wenn durch sie eine Debatte über Frau, komm! beflügelt würde. Aber im Einzelnen:
1. Sehr eindrucksvoll ist die Schilderung Ihrer eigenen Erfahrung im Februar 1945. Eine solche Szene kann man in der Tat wohl nicht vergessen.
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Ingo v. Münch
Foto: Ares-Verlag.com |
2. Ihre Skepsis hinsichtlich der Schilderungen in der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa – Sie schreiben sogar von einem Verdacht auf Manipulation, teile ich nicht. Was darin gesammelt ist, können Sie auch bei Kempowski, Kopelew und Solschenizyn finden. Die Tatsache, dass der damalige Bundesminister unseligen Angedenkens Theodor Oberländer der Auftraggeber war, liefert genau so wenig einen Grund, die Arbeit der Wissenschaftler zu kritisieren, wie es sich geziemt hätte, einem Gutachter des Auswärtigen Amtes anzukreiden, dass dessen Außenminister Steinewerfer gewesen war – wenn er es dann gewesen sein sollte.
3. Die von Ihnen erwähnten, in jener Dokumentation nicht genannten Todesmärsche von KZ-Häftlingen waren etwas ganz anderes – nämlich viel Schlimmeres als die Vertreibung; sie gehören deswegen meines Erachtens in eine Dokumentation der SS-Verbrechen, nicht aber in die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa.
4. Dass die Tragödie antiken Ausmaßes, welche die Massenvergewaltigungen gewesen sind, „sogar so kommen musste“, sehe ich nicht. Die russischen Soldaten waren nicht – wie die Nazis behaupteten – Untermenschen; sie waren Menschen, und viele von ihnen hatten Frauen und Töchter. Stalin und die russische Generalität hätten die Orgie der Gewalt stoppen können. Sie wollten es nicht.
5. Dass es in Rostock noch eine Ilja-Ehrenburg-Straßen gibt, benannt nach Stalins schärfstem Propagandisten, und dass die SPD und die Linkspartei eine Umbenennung verweigern, finde ich geradezu pervers. Dies unabhängig davon, ob das Flugblatt mit dem Text Brecht den Hochmut der germanischen Frauen! von Ehrenburg stammt oder, wie Ehrenburg behauptet hat, von Goebbels. Man nehme irgendein anderes Pamphlet aus der Feder Ehrenburgs und ersetze darin das Wort Deutsche – merke: nicht etwa Nazi oder deutsche Soldaten – durch Russen, und man sieht, wie mörderisch diese Flugblätter waren und von manischem Hass erfüllt.
6. Das Foto, das der Verlag auf den Titel meines Buches gesetzt hat, ist ein Foto, und es bildet Realität ab. Soll dieses schon häufig veröffentlichte Zeitzeugnis versteckt werden? Revisionismus?
7. Ich habe zwanzig (!) deutschen Verlagen, darunter großen und hochangesehenen Häusern, geschrieben oder mit ihnen telefoniert und ihnen mein Buch angeboten. Ohne Erfolg. Die meisten haben das Manuskript abgelehnt, ohne es gelesen zu haben. Ich musste daraus schließen, dass schon das Thema nicht in die Zwangsjacke der herrschenden political correctness passte. Dann habe ich das Buch dem Ares-Verlag gegeben, der sich, wie Sie einräumen, aufs Büchermachen versteht und für dessen Programm ich im Übrigen nichts kann.
Lieber Her Nolte, wir zanken nicht, wir debattieren, und das gefällt mir.
Ihr Ingo von Münch
WIDERWORTE GEGEN WIDERWORTE
Lieber Herr von Münch,
natürlich sind mir Widerworte eingefallen. Zum Beispiel lassen sich die braunen Flecken von den Westen der hilfswilligen Historiker Schieder und Conze so wenig wegdiskutieren wie von den Sabberlätzchen verwandter Seelen im Dienst des Ministers Oberländer (siehe: Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, Beiheft 10 der Historischen Zeitschrift). Der Jurist Ingo von Münch entgegnet darauf: Restbestände völkischen Gedankenguts von Historikern in der Nachkriegszeit hin oder her, die Dokumente, die sie gesammelt haben, sprechen eine eindeutige Sprache, und sie beweisen, dass es die grässlichen Ereignisse, von denen in ihnen die Rede ist, gegeben hat. Oder um mit Wittgenstein zu sprechen: Die Vergewaltigungen waren der Fall. Darum sind wir tausenden Frauen und Mädchen unser Mitleid schuldig.
Das ist vom ersten bis zur letzten Buchstaben richtig. Nur leider sagt es über das Befinden der Geschichtswissenschaft nach 1945 eine Menge, wer da das Wort geführt hat, und wir haben darauf zu achten, in welchem Fahrwasser wir uns bewegen, wobei ich auch nicht im Entferntesten daran denke, das eine auf Grund des anderen zu relativieren.
Und noch etwas: Sie raten mir, mich von Kempowski, Kopelew und Solschenizyn überzeugen zu lassen, wer recht hat. Tatsächlich kenne ich mich bei diesen Autoren ganz gut aus, und ich bewundere die Wahrheitsliebe, deretwillen sie viel gewagt haben und die sie viel gekostet hat. Erwähnt habe ich sie nicht, weil mein Text andernfalls noch länger geraten wäre. Darum ist auch der springende Punkt außer Acht geblieben: Bewunderung entbindet nicht von der Pflicht zur Quellenkritik.
Mit seiner Quellenkritik konzentriert sich der Autor von Frau, komm! auf Ilja Ehrenburg. Der erschreckend bedenkenlose Propagandist der Gewalt hat sich ganz gewiss selber zuzuschreiben, wie er vor der Geschichte dasteht. Aber wiederum ein Nur: Auch Ehrenburg hatte Beweggründe, und er hat Anspruch darauf, dass sein jüdisches Schicksal wenigstens erwähnt wird. Es war jüdisch, obwohl er vom jüdischen Gott nichts wissen wollte.
Lieber Ingo von Münch, lassen wir es mit diesen Bemerkungen genug sein, und vertrauen wir darauf, dass die Debatte um sich greift, die Sie sich mit Recht wünschen.
Ihr Jost Nolte