Sonntag, 29. Mai 2011

VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN

Wegen einer Unpässlichkeit des Autors ist das Weblog http://befindlichkeitenjn.blogspot.com, auch zu finden bei Google unter jost nolte, Randbemerkungen, vorübergehend geschlossen. Das Archiv bleibt im Netz.

Freitag, 20. Mai 2011

Die Demjanujuks sind unter uns

Der Ukrainer John Demjanjuk wollte sein Leben vor den Deutschen retten und leistete zu diesem Zweck 1943 im Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen. Im Alter von 91 Jahren endlich angeklagt, spielt er vor dem Landgericht München den todgeweihten Deppen. Sein Anwalt zieht mit 519 Anträgen gegen die Strafkammer zu Felde zu und bezichtigt sie der Verletzung von Menschenrechten. Die Richter verurteilen den Angeklagten zu fünf Jahren Haft und schicken ihn mangels Fluchtgefahr bis zur erhofften Rechtskraft des Urteils nach Hause. Gegebenen Falles soll sein Gesundheitszustand  den Ausschlag geben, ob er tatsächlich hinter Gitter kommt.
Bahnstation Sobibor                                                   holocaustpicture.net
Mir fällt der Mai 1945 ein. Das Wetter ist schön – ein Jahrhundert-Mai. Er versöhnt selbst Leute halbwegs mit ihrem Schicksal, die von der Besatzungsmacht vor die Tür ihrer Bergedorfer Villen gesetzt worden sind, weil die Engländer es sich im vergleichsweise  einladenden Viertel selber bequem machen wollen. Immerhin, sagen sich die Eingeses-senen, der Krieg ist aus, und wer ihn überlebt hat, muss es zu schätzen wissen; es gilt abzuwarten, was kommt. Jedenfalls die normalen Besiegten sagen es sich.
In der Hansa-Schule an der Bismarck-Straße, 1949 umbenannt in Hermann-Distel-Straße, weht ein anderer Wind. Die höhere Lehranstalt ist 1914, zwei Wochen vor Beginn des ersten Weltkriegs, aus ihrem Gründungsquartier ein paar Straßen weiter in einen imponierenden Emil-Schumacher-Bau umgezogen. Nun, am Ende des zweiten Teils des deutschen Untergangs, ist er bis unters Dach mit Verwundeten der Wehrmacht belegt. Die Feldschere des Führers operieren noch. Die Patienten hinken an Krücken über den Schulhof, oder ihre Arme stecken in Gips. Anderen geht es besser, aber sie versuchen, ihren Aufenthalt möglichst auszudehnen. Die Alternative ist, als Prisoner of War hinter Stacheldraht auf einem Acker Segeberg zu vegetieren und nicht viel mehr zwischen die Zähne zu bekommen als Gras.
Die Vorstellung, dorthin zu geraten, ist alles andere als angenehm. Doch es gibt Leute, die größere Sorgen haben. Mancher von ihnen hat es eilig, die Tätowierung loszuwerden, die ihnen der Reichsführer SS Heinrich Himmler verpasst hat: die Blutgruppenbezeichnungen A, B, AB oder 0 (ohne Rhesusfaktor), Größe 1 x 1 cm, eingeritzt 20 Zentimeter über dem Ellenbogen auf der Innenseite des linken Arms, der – so die Statistik – Soldaten seltener weggeschossen wird als der rechte. Das Brandmal ist in erster Linie als Notfallhilfe für Verwundete gedacht, die eine Transfusion brauchen. Ein kurzer Blick unter den Arm genügt, und der richtige Tropf, sofern greifbar,  kann in Funktion treten. Die Nebenwirkung kommt Himmler vermutlich ebenfalls zupass. Seine SS-Männer kämpfen verbissener, wenn sie wissen, dass nicht nur deutsche Sanitäter, sondern auch sowjetische Kommissare die Zeichen unter dem Arm lesen können.
Demjanjuks Dienstausweis

johann-foto
Mitte Mai 1945 ist Himmler vorerst verschollen, und die Rote Armee ist nicht bis Bergedorf gekommen. Wie die Sieger im Westen auf Himmlers Tätowierung reagieren, ist jedoch nicht abzusehen, und darum floriert irgendwo im zweckentfremdeten Schulbau ein Eildienst für die Beseitigung verräterischer Tattoos: Komm her, Kamerad, wir lösen dein Problem, du hast schon anderes ausgehalten. Oder so ähnlich. Nach der  Entfernung von einem Quadratzentimeter Haut wird dem SS-Mann ein neues Krankenblatt  zugesteckt: Oberarmdurchschuss links. Anzunehmen ist, dass es, die deutschen Provinzen rauf und runter, während des ganzen Kriegs nicht so viele linke Oberarmdurchschüsse gegeben hat wie jetzt.
Beim Sonnenbaden im Garten neben der Turnhalle, in der in zweistöckigen Betten ebenfalls Verwundete untergebracht sind, gerät einer ins Plaudern. Er gibt mit Weibergeschichten an.  Ort der Handlung: das KZ Neuengamme. Ja, SS-Frauen hat es dort auch gegeben. Stramme Personen. Einige waren allerdings unangenehm aufdringlich, und eine der Kameradinnen hat er eines Nachts unverhofft in seinem Bett angetroffen. Sie war nicht sein Typ, und er hat es ihr gezeigt, indem er ihr mit dem gewünschten Erfolg einen Kübel kaltes Wasser über den nackten Balg gegossen hat. Zeternd ist sie abgezogen. Der Kamerad lachte schallend, wechselt plötzlich das Thema und wird ernst. In Neuengamme, sagt er, ist es hart zugegangen. Sehr hart. Aber damit hat er nichts zu tun gehabt. Er ist bei den bei den Wachmannschaften gewesen. In Feldgrau. Er hat nur seine Pflicht getan und gehorcht. Persönlich hat er niemanden und nichts auf dem Gewissen.
Ich höre zum ersten Mal einen Täter so reden. Der Befehlsnotstand und die Formel kommunikatives Beschweigen als Erklärung für die angebliche staatspolitische Notwendigkeit, NS-Täter ungeschoren zu lassen, sind noch nicht ausformuliert; in den Köpfen rumorten sie schon. Vom redseligen SS-Mann des Jahres 1945 im Garten der Bergedorfer Hansaschule unterscheidet den Angeklagten Demjanjuk im Jahre 2011 nur, dass er kein Deutscher war, sondern Hilfswilliger aus der Ukraine. Zur Einsicht bringt ihn der Richterspruch gewiss nicht mehr, und er macht nichts gut. Das Urteil des Münchner Landgerichts hätte gute Chancen im Wettbewerb um unverhältnismäßige Urteile in der Rechtsgeschichte.
Die Richter haben Demjanjuks Menschenrecht mit Füßen getreten, wie sein Anwalt behauptet? Nach Lage der Dinge mussten sie lavieren, wenn sie den Angeklagten nicht freisprechen wollten, und wäre unerträglich gewesen, ihn laufen zu lassen. Unerträglich waren das  Schmierentheater, das Demjanjuk in 93 Verhandlungstagen in München aufführte, und die Kraftmeierei seines Anwalts.

Dienstag, 10. Mai 2011

Hiob, genannt Matthias Matussek

Über das westfälische Münster weiß der Rest der Welt heutzutage, dass dort Kriminalkomissare/innen, Gerichtmediziner und Privatdetektive fürs Fernsehen, allesamt sympathisch,  auf den Bäumen wachsen. Am heiligen Abend des Jahres 1954 pflegte eine sechsköpfige Familie – Vater, Mutter, vier Söhne – ein  anderes Genre. Unter der herausgeputzten Tanne führte der Nachwuchs ein Krippenspiel auf. Hauptdarsteller auf Heu und Stroh war, ohne Text, der damals jüngste Zugang im Zwei-Zimmer-Haushalt, gerade einmal sechseinhalb Monate alt. Die Mutter lächelte ihr Feiertags-Madonnen-Lächeln, der Vater strahlte Liebe, Verantwortung und Fürsorge aus. Münster war eine rabenschwarze Bistumsstadt, der Katholizismus war Leitkultur.
Krippenspiel, Münster 1957                        Foto: Matthias Msatussek
Vierundfünfzig Jahre später hätte der Darsteller des Jesuskindes von dazumal, Mathias Matussek, nichts dagegen, wenn alles geblieben wäre, wie es seinerzeit war. (Nur die Wohnung dürfte etwas größer sein.) Er ist aufgewachsen im selbstgewissen Glauben, den ihm die Eltern vorgelebt haben, und er ist ihren Überzeugungen treu geblieben. Davon abgesehen ist er einer der begabtesten Köpfe im kritischen deutschen Journalismus. Wie er beides zusammenbringt, frappiert gehörig.
Der Ironiker von Gottes Gnaden, zückt das Florett, wenn jemand es wagt, Ehre und Weisheit der römisch-katholischen Kirche in den Schmutz zu treten. Notfalls schwingt er den Knüppel. Seine beste Waffe aber ist sein Witz, und im Fall von Sympathie und Freundschaft soll Gnade walten. Dem Kollegen Henryk M. Broder, der gern als brillanter Gottesleugner unterwegs ist, vergibt Matussek sogar den Atheismus. Mit Broder geht es ihm offensichtlich wie dem Rabbiner, der dem Streithammel neulich an den Kopf geworfen hat, er wisse gar nicht, wie jüdisch seine Synapsen funktionieren. Seele grüßte Seele, und Broder lächelte geschmeichelt. Die Verbundenheit im Glauben funktioniert auch noch in der Negation. Fast packt mich blanker Neid. 
Mit der Kirche und ihren Päpsten, sagt Matussek, hat er zeit seines Lebens Glück gehabt. Natürlich weiß er, dass im Vatikan auch schon andere Stellvertreter Gottes, dass sogar Bösewichte auf Petri Stuhl Platz genommen haben, aber die gegenwärtige Bilanz macht ihm Mut. Im Übrigen: Der Mensch muss glauben; andernfalls müsste er verzweifeln – glauben auf die unterschiedlichste Art. Schwerste Rätsel sind inbegriffen. Psalm 139 will, dass dem Menschen gewiss ist, Gott erforsche und kenne ihn. Im selben Atemzug singt die Gemeinde, der Allerhöchste solle die Blutgierigen verjagen und die Gottlosen von der Erde tilgen. Was für ein Christentum ist es, das darum fleht?
Einwände gegen Glaubensvorstellungen müssen im Einzelnen diskutiert werden; am Recht des Vatikans, sich in Fragen des Umgangs mit Gott das letzte Wort vorzubehalten, soll nicht gedeutelt werden, solange die Kirche sich selber treu bleibt. Das Wort hat der Missionar Matussek. Er bekennt seinen Glauben und löst Titel und Untertitel ein: Das katholische Abenteuer – Eine Provokation.  Er will jedermann den Satan austreiben. Zum Glück ist auch der Witz eine Waffe. Der kongeniale Umschlag seiner 358-Seiten-Gehirnwäsche signalisiert es. Über dem Titel schwebt ein ulkiger gelber Heiligenschein, den Vornamen des Verfassers schmücken zwei rote Teufelshörner, die Unterzeile erwischt ein schwarzer Dreizack gerade noch bei der letzten Silbe, am Hinterteil sozusagen.
Einige Fragen drängen sich dem Andersdenkenden auf. Wer evangelisch getauft und konfirmiert ist, kehrt offenbar seiner Kirche leichter den Rücken als ein Katholik, und die Abwendung schmerzt ihn weniger. Aber: Für wen und gegen wen spricht diese Erfahrung? Der katholische Klerus versteht sich besser darauf, Schafe einzufangen, als die Pfarrer der Reformation, und er bewacht den Pferch besser; für den Fall, dass die Herde oder einzelne Tiere trotzdem ausbrechen, pflanzt er ihnen ein wirksames Heimweh-Gen ein. Aber: Was, wenn seine Mutter Kirche lediglich die bessere Propaganda zu bieten hätte, und die Freiheit des  Christenmenschen, bis hin zum Verzicht auf das Christentum, das höhere Gut wäre? Dass vielen, wenn nicht den meisten Menschen Schrecken und Verzweiflung in die Glieder führen, wenn sie erkennen müssten, dass der Himmel leer ist, bleibt anzunehmen. Aber: Abgesehen von den Sternen, ist der Himmel sehr wahrscheinlich wirklich leer.
DVA, 360 S., 19,99 €
Zugegeben schließlich, der Mensch ist ein Mängelwesen. Unter anderem man-gelt es ihm an Gewissheiten, und wer sie vortäuscht, muss sich überlegen, was er tut. Gläubige wie Ungläubige wissen zu wenig von dem, was ihnen zu wissen gut täte, und selbst was sie gewisslich für wahr halten, vermasseln ihnen konstitutionelle Schwächen – ihre Vergesslichkeit, ihre Ungeduld, ihre Black-outs. Wie der Autor Matthias Matussek behilft sich darum jedermann gern mit Vermutungen, die er je nach Geschmack auch Ahnungen, Annahmen, Meinungen, Überzeugungen oder Glauben nennt, und manch einer trägt so schwer an den schicksalhaften Mängeln, dass er verzweifelt nach Linderung zum Himmel schreit.
Der zuständige Heilige heißt Hiob; er ist im Alten Testament der Leidende schlechthin. Trost verspricht seinen Nachkommen allein, dass es so viele Hiobs gibt. Ein probater Weg aus dem  existentiellen Elend: Die Hiobs dieser Welt schließen sich zusammen, gründen eine Notgemeinschaft, stiften eine Heilslehre, bauen Tempel und streben danach, möglichst alle verlorenen Seelen unter ihrem Dach zu versammeln. 
Daraus bezieht Matthias Matussek seine Einsichten. Sie tragen zur Wahrheitsfindung bei; anzuzweifeln sind sie der erwähnten Ungewissheiten wegen trotzdem. Eins aber trifft ebenfalls zu: Die Theologie überlässt der Provokateur Matussek den Theologen. Ihm ist es um den lebendigen Glauben zu tun, und mit ihm trumpft er so glänzend auf, dass es gelegentlich selbst einen eingeschworenen Atheisten aus dem Lesesessel reißen will. Ich behaupte nicht, dass ich schon auf dem Weg zum nächsten Pfarramt war, um nach einem Aufnahmeformular zu fragen, aber ich ertappe mich dabei, wie ich mir die Szene ausmale. Matthias Matusseks katholisches Abenteuer ist nicht nur bestechende Literatur, es ist auch eine Verlockung. 

Freitag, 6. Mai 2011

Feindstrafrecht

Staatsfeind Geronimo (rechts) mit Kampfgefährten                                    Abb: jn-archiv*

Heribert Prantl im Kommentar der Süddeutschen Zeitung von heute: „Das sogenannte Feindstrafrecht propagiert den Ausschluss eines Menschen, eines Feindes, aus dem Recht. Die USA hatten politisch offenbar beschlossen, dass für Bin Laden, der sich von jeglichem Recht entfernt hatte, ein Ausschluss aus dem Recht gelten soll.“ Prantl greift in die richtige Kiste. Falsch ist nur der Eindruck, es handele sich um etwas Neues. Vielmehr übersetzt schon Nicodemus Frischlin in seinem  Nomenclator aus dem Jahre des Herrn 1586 das lateinische Adjektiv exlex mit vogelfrey. Frischlin erklärt, der so gestellte Mitmensch sei „dem Angriffe jedermanns freigegeben, ohne gesetzlichen Schutz, geächtet“, und er fügt hinzu, der Ausdruck gehöre nicht der "alten Rechtssprache" an. Als vogelfrei, so erfahren wir ferner im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (Bd.26, Sp.407ff), gelten unter Gelehrten zum Beispiel der Spitzbube und der Hanswurst. Mit einer Erörterung modernen Feindstrafrechts handelte sich vier Jahrhunderte später der Regensburger Rechtswissenschaftler Günther Jakobs erhebliche Kritik ein. Ein juristischer Dauerbrenner also, bei dem es noch nie um Buchstaben von Gesetzen ging, sondern immer nur um Macht und Gelegenheit, wenn es galt, andere für exlex zu erklären und gewaltsam zum Tode zu befördern.
Und noch etwas: Der Deckname, den die US-Behörden dem Überfall der Navy Seals auf Osama Bin Ladin im pakistanischen Abbottabat gaben, lautete bekanntlich Geronimo. Das passte insofern, als Geronimo (1829-1909), der Kriegshäuptling der Chiricahua-Apachen, die weißen Amerikaner seiner Zeit zur Weißglut trieb. Dass ihn keine Kugel töten werde, versprach er seinen Anhängern dennoch hoch und heilig, und so kam es tatsächlich. Als der Staatsfeind einsehen musste, dass er den Weißen nicht gewachsen war, einigte er sich irgendwie mit ihnen. Statt noch länger mit Pfeil und Bogen zu schießen, begann der Liebhaber langer Flinten (s.Abb.), mit  den Waffen der Rothäute einen schwunghaften Handel zu treiben. Im Alter von 80 Jahren stürzte er von seinem Pferd in ein Bachbett. Drei Tage später starb er ganz unheroisch an Lungenentzündung
* Mit besten Dank für den Hinweis auf das Bild an die FAZ, die Geronimo heute morgen auf ihre Seite 1 gestellt hat 

Montag, 2. Mai 2011

Splitter: Osama, Karski, Rinser

US-Spezialkräfte haben in Pakistan Osama Bin Ladins Versteck gestürmt und den Terroristen erschossen. Big Apple tanzt um Ground Zero, und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und Oberbefehlshaber ihrer Streitkräfte Barack Obama lobt die präzise Arbeit der CIA und den Mut der Truppe. – Die Weltmacht hat zum letzten Mittel gegriffen, und niemand soll in Zukunft Obama unterschätzen und ihn einen Feigling nennen.
*
Jan Karskis Bericht an die Welt ist endlich auf Deutsch erschie-nen, das Buch, das der Kurier des polnischen Widerstands und der in Polen von der Schoah bedrohten polnischen Juden schrieb, nachdem 1942 seinen wahrheitsgemäßen Bericht weder der britische Außenminister Neville Chamberlain noch der amerikanische Präsident  Franklin D. Roosevelt geglaubt hatte. (Antje Kunstmann Verlag, München 2011, 528 S., 28 €) – Wer nach den Tragödien im 20. Jahrhundert fragt, kommt an Karski (1914-2000) nicht vorbei.
*
Vor zwei Tagen  wäre die Schriftstellerin Luise Rinser 100 Jahre alt geworden. Ihr exzeptionelles  Gutmenschentum hat sie vor neun Jahren ins Grab mitgenommen. Ihre Biographie ist so erstaunlich wie lehrreich. (S. Fischer Verlag, Frankfur/M 2011. 464 S., geb., 22,95 €)

Sonntag, 1. Mai 2011

Hässliches Restrisiko

Fascinosum: Strommast von unten 
Windräder  in der Nordsee bis an den Horizont, auf schwäbischen Anhöhen und auf bayerischen Berggipfeln, dazwischen unzählige Überlandstromtrassen, die das Land zerschneiden,  alles bedeckende schwarzglänzende Sonnen- und Vakuum-röhrenkollektorenanlagen nebst öden Anbauflächen für Getreide, das als Regelbrennstoff gemäß der Anfang 2010 novellierten 1. Bundes-Immissionsschutz-verordnung (BImSchV) vorgesehen ist. Deutschland verheizt seine Schönheit, Hässlichkeit als Schicksal der Nation... Wer sagt, dass es so kommen muss? 
Das Ruhrgebiet ist schöner geworden, seit Zechen und Gruben geschlossen wurden. Allerdings stieg dort  die Arbeitslosenquote zeitweise um mehr als 300 - in Worten dreihundert Prozent an, und die vielgerühmte neue Schönheit des Landstrichs ist aufs neue bedroht. Windräder und Strommasten schießen auch hier aus dem Boden oder werden sich demnächst  gen Himmel recken. Schuld an dem Malheur sind nicht die die beteiligten Ingenieure. Dass ihnen die Ästhetik ihrer Produkte Hekuba ist und dass entsprechend aussieht, was sie in Wälder und Auen klotzen, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sie liefern, was bestellt ist. Der gegenwärtige Befund ist banal: Wie ehemals die Kühltürme und heute die Atommeiler haben Windräder ersichtlich Schönheitsmängel, es gibt nur viel mehr von ihnen. Umso mehr Andstoß erregen sie. während künstliche Staudämme faszinieren können, und der Anblick eines Strommastes von unten eher zufällig den Blick fesselt.
Windräder: Monstren in der Landschaft 
Auf Abhilfe können wir nur hoffen: Auch wenn sie nur noch Museumsstücke oder zweckent-fremdet sind, begeistern alte Mühlen bis heute. Gewiss können wir die neuen Windräder nicht einfach ins Historische umstylen, zur Anregung kreativer Köpfe unter den Designern könnten die Beispiele vergangenen Bauhandwerks dennoch taugen. Versuche wären jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos. Zwar neigt der Mensch dazu, sich an seinen Geschmack zu klammern, aber nicht nur die Geschichte der Mode lehrt, dass sich Sehgewohnheiten dennoch wandeln. Die Annahme, dass unweigerlich hässlich bleibe, was hässlich sei, ist zum Glück grundfalsch. 
À propos Spargel: Von ihnen zu reden, überließ kürzlich im ZDF Winfried Kretschmann dem Moderator Klaus Kleber, der ihm das Wort offenbar gern in den Mund gelegt hätte. Kretschmann, den Grüne und SPD in Stuttgart in der nächsten Woche zum Ministerpräsidenten wählen wollen, bekräftigte seine Pläne, Windparks dort anzulegen, wo in Baden-Württemberg der Wind weht, auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald. Der gelernte Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik zeigte jedoch, dass er hinreichend mit politischen Wassern gewaschen war. Er wusste, dass ihm Klebers Scherz um die Ohren fliegen konnte und bog ihn ab. Seine Geistesgegenwart wird er weiterhin benötigen, wenn seine Landsleute demnächst die Wanderstiefel schnüren, den Lemberg (1.015 m ü. NN) oder den Feldberg (1.414 m ü. NN) erklimmen und sich dort von Windrädern umzingelt sehen.
Mühle in Holland: Ihr eigenes Denkmal
Der Ernst der Angelegenheit drängt sich auf: Seit der Katastrophe im Hochtech-nologie-Land Japan sehen sich Fachleute auch bei uns zu dem Eingeständnis genötigt, dass sie nicht wissen, ob ein Kern in einem ihrer Atommeiler noch heute, erst morgen, vielleicht in 200 Jahren oder niemals schmelzen wird. Ihrer Weisheit letzter Schluss sind sogenannte probabilistische Sicherheitsanalysen, mit deren Hilfe sie Erfahrungen mit Störfällen so gewissenhaft wie möglich auswerten mögen, aber zu ihrem und unserem Leidwesen regelmäßig an Szenarien scheitern, „die zwar denkbar, aber in ihrer Wahrscheinlichkeit nicht quantifizierbar sind“.
Genau dies will die Vokabel Restrisiko sagen. Dummer Weise verführt sie stattdessen dazu, den Sachverhalt zu verharmlosen. Denn: Wir sind es gewohnt, Reste wegzuwerfen; darum überhören wir, dass in der Doppelvokabel ein unbekannter Rest das vermeintliche Risiko als das zeigt, was es ist – als grundsätzlich undurchschaubare Gefahr. Sie besteht darin, dass irgendwo auf der Welt zu einem Zeitpunkt, den keiner kennt, und aus Gründen, die niemand vorhersagen kann, ein Atomkern außer Kontrolle geraten kann. Es wäre die vierte Katatrophe nach Harrisburg (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), und ereignen kann sie sich in irgendeinem Winkel der Welt. Die einzige Vorbedingung ist, dass dort ein Atomreaktor steht. 
Winfried Kretschmann und andere besorgte Zeitgenossen haben recht, wenn sie behaupten, dass das Restrisiko niemandem zuzumuten ist, wo immer er lebt. Das Weitere fällt unter die Weisheit, dass die Lösung von Problemen den Homo sapiens regelmäßig in neue Probleme verstrickt. Dabei die Ästhetik in den Wind zu schlagen, wäre eine Dummheit. Klug wäre es hingegen, mit dem Wind zu spielen, um auf neue Gedanken zu kommen.
Windspiele am Strand von Warnemünde 
© jn-foto (2), jn-Archiv (2) - bei Interesse bitte anklicken

Mittwoch, 27. April 2011

Free Ai Weiwei

Konfuzius ist in Ungnade gefallen. Im Januar haben ihn die Chinesen in wuchtiger Bronze auf dem Tian'anmen-Platz vor ihr National-museum gestellt. Jetzt haben sie ihn auf einen Hinterhof geschafft. Der große Lehrmeister, wenn auch mehr der Ordnung als der Freiheit zugetan, ließ sich als Gewährsmann für  Menschenrechte heranziehen. Vor diesem Irrtum will die Regierung, die Kritiker wegsperrt, ihr Volk bewahren.

*
Die Berliner Akademie der Künste hat gestern abend über die Ausstellung Die Kunst der Aufklärung in Peking sowie über die Verhaftung des Künstlers Ai Weiwei und anderer Regimegegner in China eine „deutsche Debatte“ geführt. Der stern berichtet online, der Kulturstaatsminister Bernd Neumann habe sich den abwesenden Martin Roth vorgeknöpft und ihn, "an Deutlichkeit nicht zu überbieten", kritisiert: "Ich habe wenig Verständnis dafür, dass im Kommentar eines beteiligten Museumsdirektors der Eindruck erweckt wurde, Ai Weiwei habe wegen seiner offensiven Kritik am chinesischen Staat quasi eine Mitschuld an seiner Verhaftung. Eine derart tiefe Verbeugung gegenüber dem chinesischen Staat hat nichts mehr mit Höflichkeit zu tun, das ist anbiedernd und die Verhöhnung eines mutigen und bedeutenden Künstlers." (Über Roth: Ai Weiwei, Machthaber, Kollaborateure, Randbemerkung vom 14. April)
Das Resümee des Akademie-Prädsidenten Klaus Staeck: Der Zulauf war enorm, die Debatte moderat. Niemand wollte die Ausstellung schließen, um gegen die Gewaltpraxis des Regimes zu protestieren. Wörtlich: "Was hätte es auch gebracht?“
Was Staeck meint: Die Machthaber im Reich der Mitte würde der Abzug kaum beeindrucken, Ai Wei würde es nicht helfen, und eine Minderheit käme um den Genuss schöner fremder Bilder.
Vorherrschend also: Pragmatik, resignativ... 

Dienstag, 26. April 2011

Morgenrot im Monopol

Doppelseite aus monopol: Wie zu küssen ist                  jn-Foto
Niemand soll behaupten, monopol sei ein Spielverderber; im Gegenteil, das Magazin für Kunst und Leben aus dem Hause Ringier ist dem Nachwuchs jener Claque verpflichtet, deren Vorgänger-Generation die Zeitschrift art (Gruner + Jahr) herangezogen hat, das Jasager-Blatt, das vor gut dreißig Jahren der Reporter, Kochbuchautor und Werbemann Wolf Uecker nach dem Geschmack seines Auftraggebers Henri Nannen gründete. Den Geist des legendären stern-Chefredakteurs und nachmaligen Museums-Eigners in Emden atmet art nach wie vor, seine tiefinnere Überzeugung, ein Kunstwerk habe zu sein, was Künstler und Kunstbetrieb uns servieren, und monopol hielt sich ebenfalls an das Erfolgsrezept. Genauer betrachtet, hat es sich bis zum jüngsten Heft so gut wie unbeirrbar daran gehalten.*
Die durch unentwegte Verwendung fadenscheinige Masche ist auch im neuen monopol-Heft zu finden – wenn etwa eine Autorin, die "fragil" und "spröde" wirkenden Gebrauchsgegenstände Nina Canells rühmt. Mit ihrem lieblichen Gesicht unter aschblond wuseliger Frisur könnte die Künstlerin, geboren 1979 in Schweden, ohne weiteres als naives Opfer in einem Wallander-Krimi überzeugen. Doch sie hat es mit Gedanken, weswegen sie Fundstücke arrangiert und dem in ihnen „gespeicherten Wissen“ nachspürt. Nachdem die Künstlerin Canell sich ihrer angenommen hat, sehen eine säuberlich verlegte Antenne und eine Emailleschale, aus der Wasserdampf steigt, allerdings immer noch aus wie eine säuberlich zurechtgebogene Antenne und eine Emailleschale, aus der Wasserdampf steigt.
Und doch sollen uns diesmal Schuppen von den Augen fallen, und Hoffnung beschleicht uns, dass im Kunstjournalismus eine neue Ära am Horizont heraufzieht. In seinem Editorial nämlich macht uns der Chefredakteur Holger Liebs den Mund wässerig und verheißt Aufschluss über die Natur von Vernissagen:  „Wir haben uns diesen Nukleus der Kunstwelt mal so angeschaut, als wären wir Aliens, die frisch nach der Landung in eine Kunstgalerie gestolpert wären. Aus ethnologischer Distanz sozusagen...“
Es geht darum, wie man sich für Ausstellungseröffnungen anziehen soll, wie man sich tunlichst bei ihnen benimmt, und darum, wer (hinzufügen: außer einem selber) die merkwürdigen Leute sind, die man zwischen den Kunsterwerken antrifft.
Hand aufs Herz, das Heft spielt erstens glänzend mit Ironie und löst das Versprechen seines Blattmachers ein. Zweitens erörtern anschließend ein Künstler, ein Kurator und ein Sammler die „Schnittmengen von Parallelsystemen“ im Kunstbetrieb, und mindestens so interessant wie das gespreizte Gerede des Trios sind die Einsichten, die zwischen den Zeilen des Protokolls heraufdämmern. Drittens durchleuchtet Anthony Haden-Guest unter der Überschrift Raus bist du die Machtspiele auf dem Kunstmarkt sowie die speziellen Intrigen und die Schwarzen Listen der Zunft.
In monopol leuchtet ein Morgenrot? Natürlich kann es wieder verblassen, aber das Heft beweist kritischen Witz, und das ist zu rühmen.
* Über Henri Nannen: Gerhard E. GründlerMit den Träumen der Leute spielen.

Sonntag, 24. April 2011

Ai Weiwei, Machthaber, Kollaborateure

Die Schuhe des Philosophen Kant
Die Sonntagszeitung widmet dem Empfinden von Chinesen, die Unbehagen am Westen spüren und sich –  so die freundliche Umschreibung – lieber auf die eigene Tradition besinnen, eine Zweidrittelseite. Überschrift: „Im Westen nichts Gutes...“ Für den weggesperrten Künstler Ai Weiwei und für den ebenfalls eingekerkerten Schriftsteller Liu Xiaobo, er nach quälender Ungewissheit mit einem Urteil auf elf Jahre Haft, fallen gerade einmal ein Dutzend Zeilen in gepflegt neutralem Ton ab (FAS, Nr.16 vom 24.04.2011, S.8). Offenkundig schwindet in den Medien das Interesse am Schicksal des Berserkers der modernen Skulptur in dem Augenblick, in dem Aufrufe anderer, seine Freilassung zu fordern, auf den Straßen Früchte tragen. Liu Xiaobo erwähnen sie ohnehin nur noch sporadisch.
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan und darf sich zurücklehnen? Ai Weiwei, seit der Documenta 12 von 2007 weltberühmt, und Liu, der Friedensnobelpreisträger von 2010, werden es zu spüren bekommen. Die Machthaber im Reich der Mitte werden sich noch weniger genieren, mit ihren Gefangenen nach Belieben umzuspringen. Dem Westen bleibt neben dem dummen Gefühl, politisch wieder einmal den Kürzeren gezogen zu haben, die peinliche Erinnerung an die Sprüche der Kollaborateure des Staatsterrors bei sich zu Hause.
Zwecks Auffrischung kurzlebiger Gedächtnisse eine knappe Chronik jüngsten Versagens: Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle reist nach Peking. Er will im vom deutschen Architekten Meinhard von Gerkan umgebauten Nationalmuseum am Platz des Himmlischen Friedens die von den deutschen Museumsdirektoren Martin Roth (Dresden), Michael Eissenhauer (Berlin) und Klaus Schrenk (München) bestückte Ausstellung Kunst der Aufklärung eröffnen. Mit von der Partie ist eine Wirtschaftsdelegation, die sich auf gute Geschäfte mit dem Regime und seinen 1,4 Milliarden Untertanen freut. Das Regime, wie üblich auf der Hut, verweigert einem Begleiter des Ministers, dem Schriftsteller Tilman Spengler, das Einreisevisum. Der offenkundige Grund: Spengler kennt sich in China besser aus, als den Machthabern lieb ist. Jemand fragt während der Vernissage laut, warum der gelernte Sinologe abwesend sei. Mitglieder der deutschen Delegation reagieren mit Buhrufen. Nachträgliche Begründung: „Ohne China könnten wir die Phaëton-Produktion vergessen.“ VW-Reklame für den PKW der Oberklasse namens Phaëton: "Einzigartig wie ein Kunstwerk"... (Im griechischen Mythos heißt so der Sohn des Sonnengottes Helios; der junge Mann fährt das Himmelsgefährt seines Vaters zu Bruch und setzt auf diese Weise die Po-Ebene in Flammen.) Minister Westerwelle schweigt sich aus. Die Quittung bekommt er, kaum dass er im Flugzeug nach Hause Platz genommen hat: Die höflich geschonten Gastgeber lassen Ai Weiwei verschleppen. Bis heute weiß niemand, wo sie ihn hinter Gittern halten.
Flugblatt der Tate Modern
Die deutsche Politik reagiert, wenn überhaupt, auf diplomatischen Schleichpfaden. Die deutschen Kollaborateure klopfen Sprüche. Der Architekt von Gerkan behauptet schlankweg, noch nie habe es in China so viel Freiheit gegeben wie heutzutage, und er beschimpft Ai als Popkünstler, der absichtlich provoziere. Der Ausstellungsmacher Martin Roth beeilt sich ins selbe Horn zu stoßen: „Niemand kann doch im Ernst meinen, man könne den Chinesen lauthals unseren Wertekanon diktieren, noch dazu im Nationalmuseum.“ Wie Gerkan nennt er Ai einen Popstar, der „ständig draufhaut“. Es gebe hunderte Künstler wie Ai. Sie seien nur nicht so prominent. . Im übrigen sei die böse Presse schuld. Sie schreibe mehr über Menschenrechtsfragen als über Roths Ausstellung: Und: „Fast niemand hat nach Kant gefragt...“
Kant? Wieso Kant? Die Erklärung ist ein Witz: Martin Roth hat aus der Rüstkammer der sächsischen Könige zu Dresden die Schuhe des Philosophen Immanuel Kant in die Pekinger Aufklärungs-Schau mitgebracht. Beim Anblick des Auslaufmodells von Schnallenschuhen, schon flach, wie die Empiremode es erforderte“, sollen sich nun die Chinesen veranlasst sehen, von der Fußbekleidung des Philosophen auf dessen Kopf, von diesem auf die Aufklärung und endlich von ihr auf den Anspruch des Menschen auf Freiheit schließen.
Wahrlich eine hochpolitische Lektion!
Sonst aber scheint Roth der Meinung zu sein, dass sich die Aufregung schon legen werde. Heute war er zu Gast bei meiner Kollegin Sabine Küchler in den Zwischentönen des Deutschlandfunks. Ich habe die Sendung leider verpasst, aber es ging wohl in der Hauptsache um den glücklichen Aufstieg des Kulturwissenschaftlers Roth zum Vorreiter der Museumskultur hierzulande und um seinen neuen Job. Denn nach zehn erfolgreichen Jahren als Generalintendant der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden wechselt er im September ins Londoner Victoria and Albert Museum. Wäre ihm Peking nicht passiert, gehörte es sich, ihm Glück zu wünschen.
Peking aber ist ihm passiert, und an der Themse könnte er eine ärgerliche Überraschung erleben: Dort hat Chris Dercon, der Hausherr der Tate Modern, ein großes Plakat mit der Aufschrift Release Ai Weiwei an seine Fassade gehängt und Flugblätter verteilt, die mit großem Erfolg zur Unterschrift unter die Forderung Free Ai Weiwei auffordern. Wenn Ai bis dahin nicht auf freiem Fuß ist, könnte Dercon auch noch im  Herbst die Trommel für die Menschenrechte rühren.
So oder so wäre interessant, dabei zu sein, wenn Roth seinem Kollegen Dercon den Antrittsbesuch macht.
Die Schrift an der Tate Gallery of Modern Art      Fotos(03): ZDF/jn

Dienstag, 19. April 2011

Vertrauen in den Herdentrieb

Frans de Waal ist ein Menschenfreund und Belletrist unter den Naturforschern. Dass er gelegentlich Abneigungen gegen Zeitgenossen eingesteht, reduziert seine Philanthropie auf ein erträgliches Maß. Über einen deutschen Biologen an der Universität Nimwegen gibt er zum Besten: „Er hielt nichts von Äther, sondern nahm einfach eine Schachtel mit lebenden Mäusen und wendete uns den Rücken zu. Wenige Minuten später lag ein Haufen toter Mäuse mit gebrochenem Genick auf dem Labortisch.“ Der Student von damals, mittlerweile selber Professor für Primatenverhalten an der Emory University in Atlanta und dank seiner Arbeit mit Schimpansen weltberühmt, räumt ein, die Hinrichtung der Versuchstiere, wissenschaftlich gesprochen: die zervikale Dislokation, sei vermutlich, weil rasch erledigt, humaner gewesen „als andere Formen der Euthanasie“. Und so findet der Gelehrte seinen Lehrer, den andere für einen entlaufenen KZ-Aufseher hielten, im Nachhinein lediglich „etwas furchterregend“.
Der Schimpanse
Aus: Brehm´s Illustrirtes Tierleben von 1868
So viel zur Gemütsverfassung des Autors. Sie unterbindet zum Glück nicht seinen Humor und hindert ihn nicht, frappierende Forschungsberichte zu liefern. Seine Grundeinsichten: Die Weisheit Homo homini lupus* des Römers Plautus (um 254 bis 184 v.Chr.), aufgefrischt vom Engländer Thomas Hobbes (1588 bis 1679 n.Chr.) sei eine "fragwürdige Aussage über unsere eigene Art, die sich auf falsche Annahmen über eine andere Art stützt“. Beide, Menschen und Wölfe, seien Säugetiere, die in Rudeln leben. Folglich seien sie aufeinander angewiesen, und wenn sie auch nicht gut sein mögen, gehen sie doch von Natur aus weniger bösartig miteinander um, als gern behauptet werde. Eine ähnliche harsche Abfuhr erteilt de Waal dem Philosophen Immanuel Kant. Der Deutsche habe zwar zugegeben, dass Mitleid eine schöne Sache sei; besessen vom Gedanken an die Pflicht, habe er der edlen Regung aber jedes Gewicht für ein tugendhaftes Leben abgesprochen: „Wer braucht schon fürsorgliche Gefühle, wenn nur die Pflicht zählt?“
Übertreibt Frans de Waal?
Mit seiner Kant-Kritik schießt er übers Ziel hinaus. Andererseits: Ich glaube ihm ihm nur zu gern die wohlgemuten Erkenntnisse, die er aus dem freundschaftlichen Lächeln von Schimpansen, aus ihren Umarmungen und ihren Küssen gewinnt. Könnte es einem Literaten zu Gesicht stehen, einem Verhaltensforscher Poesie vorzuwerfen?
Whatever can go wrong, will go wrong – der Biologe de Waal akzeptiert die Lebensweisheit des Ingenieurs Edward A. Murphy. Oder will jemand behaupten, was schiefgehen könne, gehe nicht schief? De Waal spricht vom Gesetz der unbeabsichtigten Folgen und meint menschliche Projekte. Der Biologe warnt nachdrücklich davor, an der Natur herumzubasteln: „ob wir den Nilbarsch in den Viktoriasee, das Kaninchen in Australien oder die Kudzupflanze in den Südwesten einführen...“ Und er verwahrt sich gegen die verhängnisvolle Praxis, die Menschennatur nach den Maßstäben von Ideologien zu konditionieren.
Wir wissen, unter dem Vorwand von Heilsversprechen geschieht dies zumeist, um die Gefolgsleute fit zu machen für den Kampf um Macht und Markt – mit welchen Begründungen und in welchen Dimensionen auch immer.  
„Empathie für andere Völker ist der Rohstoff, den die Welt noch dringender braucht als Öl“, hält Frans de Waal  dagegen.
Um es mit Immanuel Kant zu sagen, unsere Pflicht wäre es mithin, nicht nur Empathie zu empfinden, sondern ihr nach Kräften Entwicklungshilfe zu leisten.
Eine Illusion?
Was der Mensch dem Menschen und nicht nur ihm antun kann, steht tagtäglich in der Zeitung.  Frans de Waal setzt dennoch darauf, dass Abhilfe gelingen könne: „Wir fordern unsere Spezies doch nicht zu wesensfremden Dingen auf, wenn wir vorschlagen, sie solle sich wieder stärker an den alten Herdeninstinkt halten, der die Tiergesellschaften seit Jahrmillionen zusammenhält.“
Möge die Menschheit dem Vorschlag folgen.
* Der Mensch ist des Menschen Wolf


Franz de Waal: Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. Mit Zeichnungen des Autors. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Hanser Verlag, München, 352 S.,  24,90 €

Montag, 18. April 2011

Wandernepper oder Nico ist umgezogen

Einerseits hat es die Firma Webtains eilig. Sie schickt mir keine Rechnung und ebenso wenig die übliche Zahlungserinnerung, sondern gleich die Letzte Mahnung. Andererseits hat der Absender ein mildes Herz und räumt mir für den Fall, dass ich „den Betrag nicht in einer Summe ausgleichen“ könne, eine Ratenzahlungsvereinbarung ohne Mehrkosten ein: „max. 6 Raten, 1. Rate am: spätestens 3 Wochen nach Zustellung“. Meinerseits soll ich dafür – das ist der Trick – die Webtains-Forderung „in vollem Umfang“ anerkennen. Den Teufel werde ich tun. Weder zahle ich, noch vereinbare ich Ratenzahlung und liefere mich damit  dem angeblichen Anspruch auf mein Geld aus.
Wie es aussieht, gedenkt die Firma Webtains, noch mindestens ein halbes Jahr lang, von 63110 Rodgau aus mit ihren Tentakeln uns Gimpel abzugreifen. Wenn ich Wikipedia trauen darf, ist dort, in Rodgau, für die 43.132 Einwohner – macht 0,0007 Mitbürger auf den Quadratmeter – der Hund begraben. Ob Webtains in diese Adresse in der Ödnis mehr investiert hat als die Kosten für einen Briefkasten, mag überprüfen, wer will. Die Vermutung, warum die Firma kürzlich aus Eisenach, über dem immerhin die Wartburg thront, 205 Kilometer westwärts nach Rodgau umgezogen ist, liegt ohnehin auf der Hand: Die Thüringer Verbraucherzentrale hat ihr die Hölle heißt gemacht, und vermutlich sind die Nepper auch der dortigen HypoVereinsbank unliebsam aufgefallen, denn in Rodgau haben sie ihr Konto nun bei der Commerzbank.
Was Webtains von mir will, im Originalschreiben:
Bei Interesse bitte anklicken
So einschüchternd die Letzte Mahnung abgefasst ist, sie enthält kein wahres Wort: Ich habe tatsächlich keine Rechnung und keine Zahlungserinnerung erhalten. Anders als Webtains behauptet, habe ich erst recht keinen Jahreszugang zu einem Routenplaner-Service bei den Herrschaften geordert. Schon deswegen nicht, weil ich mich seit mehr als anderthalb Jahren nicht mehr hinter das Steuer eines Autos gesetzt habe und mein Führerschein seither in der Schublade für familiäre Erinnerungsgegenstände liegt. Und wenn ich trotzdem wissen will, wie weit Rodgau von Eisenach entfernt ist, bemühe ich nicht einen wildfremden Service, sondern ich google und erhalte gleich drei Vorschläge, wie ich fahren kann.
Kurzum, Webtains tut, was sich auf den Webseiten der Verbraucherzen-tralen, auf der Hamburger auf der letzten von 22 Seiten, nachlesen lässt: sie zockt naive Gemüter ab. Und wer sich übers Ohr hauen lasse, sagt die Verbraucherzentrale, zahle ärgerliches Lehrgeld. Ferner: Um diese Gefahr abzuwenden, müsse der versuchsweise Geneppte nicht einmal auf die unverschämte Post antworten. Er solle letzte Mahnungen und zu erwartende Anwaltsschreiben schlichtweg ignorieren.
Der Webtains-Geschäftsführer heißt in dem Schreiben an mich Nico Neugeboren, in der Nepper-Schnäpper-Bauernfänger-Liste der Hamburger VZ heißt er Nico Neugeborener. Neugeboren, neugeborener, am neugeborensten? Wer immer die Liste getippt hat, hat sich wahrscheinlich, ermüdet von so vielen Nepper-Namen, nur vertippt. Dieser Nico muss sich ja nicht den Mühen einer Reinkarnation unterziehen; er muss nur in angeratenem Abstand zum alten Quartier ein neues Zelt aufschlagen und von einem Geldinstitut zum anderen wechseln. Vermutlich könnten ihm die neuen Finanzpartner rasch auf die Schliche kommen. Doch warum sollten sie? Auch die Gebühren für ihre Handreichungen sind Geld,  und der flotte Nico will nicht in ihre Kasse langen, sondern in unsere Taschen.

Freitag, 15. April 2011

Selbst – auch Camouflage

Some Thames: Vier Wände  und die Wasser der Themse 
© jn-foto
Einem, der wie ich am Wasser aufgewachsen ist, muss niemand erzählen, wie faszinierend Wasser sein kann. Es sollte sich allerdings bewegen, was es auf Fotografien nun einmal nicht tut. Die New Yorkerin Roni Horn, geboren 1955, schafft es trotzdem, mit Fotos vom Wasser zu begeistern. Sie hängt achtzig Wasser-Aufnahmen neben-einander in Augenhöhe an weiße Wände, und das Wasser lebt. Jedes Bild in den Farben und Formen, die ihnen der unsichtbare Wind und der ausgesparte Himmel zuliefern, ist ein Kunstwerk für sich; sie überwältigen mittels Vielzahl.
  a.k.a.: Roni Horn oder doch jemand anderes    © Roni Horn
Die Fotogra-fin lässt uns wissen, es handele sich um die Was-ser der Themse bei London und sie meine mit ihren Bildern auch die Weltgeschichte, die hier reichlich in Szene gegangen ist. Beweiskräftige Ansichten von Gebäuden am Ufer wie beim Maler Turner oder von Brücken wie bei Turners Kollegen Whistler gibt es nicht. Nur Wasser. Es könnten auch die Wasser der Elbe bei Hamburg oder die eines Fjords in Norwegen sein, aber die New Yorkerin mit auffälliger Liebe wohl nur ausnahmsweise zu London, vor allem aber zu Island und den Isländern, ist versessen auf Identitäten, und also wird die Auskunft stimmen.
Identität, sagt Petra Roettig, die mit Gonçalo Sousa Pinto die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle kuratiert hat, ist bei Roni Horn immer auch Camouflage. Das zeigen dreißig paarweise gehängte Porträts. Der Betrachter braucht eine Weile, bis er kapiert, dass sie sämtlich die Fotografin selber zeigen. Die erstaunliche Konstanz in Gesichtern, die es uns ermöglicht, einen Menschen sein Leben lang wiederzukennen, das junge Mädchen oder den Jüngling noch in hochbetagten Frauen und Männern, dieser Streitfall für Physiognomiker, scheint gegenstandslos zu sein: Roni Horn sieht sich frappierend unähnlich. Die Serie heißt Naturgewalt: Roni Horns aka. Die Abkürzung a.k.a. steht im Englischen für also known as (auch bekannt als) und deckt sich ungefähr mit dem bei uns gebräuchlichen lateinischen alias. Mit sich selber unzweifelhaft in Übereinstimmung ist das Thema: Gezeigt wird, was gemeint ist; der Betrachter muss es nur herausfinden.
You are the Weather
© Roni Horn 
Roni Horn meint mit ihren Bildern immer etwas, und es ist durchweg der Mühe wert, sich darüber den Kopf darüber zu zerbre-chen. Gelegentlich schießt ein Bild oder eine Serie übers Ziel hinaus. Etwa dann, wenn das sehr weiche Gesicht eines isländischen Teenagers  – Junge oder Mädchen? – neben Aufnahmen von Geysiren hängt. Es brodelt in Menschen dieses Alters? Nun ja, das wussten wir schon. Das Gegenstück, das Gesicht einer jungen Frau, 36fach, auch einer Isländerin, mit der Überschrift You are the Weather ist Wetter und Gesicht in einem. Es überzeugt sofort, ob nun Spuren eines Regens im Spiel sind oder nicht. In einer Serie mit dem Titel Clowd and Cloun - watch the diphthongs! – spielt Roni Horn mit Cumulus humilis und Bajazzos rotem Mund. Assoziationen verflüchten sich rasch. Da bleibt das Spiel ein Spiel. – Wir dürfen schwelgen im Raffinement dieser Ausstellung, deren Pointen nicht auf Gelächter zielen, sondern auf Nachdenken.
Beeindruckend und reich an Überraschungen: Roni Horn: Photographien in der Hamburger Kunsthalle. Bis zum 14. August.
Clowd and Cloun: Wer ist wer?                     © jn-foto

Donnerstag, 14. April 2011

Vom überwundenen Misstrauen

Politiker misstrauen Journalisten. Nicht nur falsche Antworten, die man ihnen gibt, können Schaden anrichten, denkt der Politiker, sondern auch zutreffende. Es genügt, dass jemand die Auskünfte in den falschen Hals kriegt oder sie absichtlich missversteht und sich über sie das Maul zerreißt. Schuld sind dann, so das verlässliche Ritual, regelmäßig die Journalisten, die ihrerseits Politikern misstrauen. Die Politiker nämlich, denkt auf der anderen Seite des trennenden Grabens der Journalist, geben grundsätzlich nur so viel von ihren Ansichten und Absichten preis, wie ihnen im politischen Geschäft nützt – ganz zu schweigen von den Beweggründen, die angeblich immer und ewig edelster Natur sind.
Das Misstrauen auf Gegenseitigkeit blüht nicht nur zwischen Journalismus und Politik, sondern ganz allgemein zwischen den Medien und dem Rest der Welt. Im politischen Tagesgeschäft fällt es lediglich am häufigsten auf, weil niemand so sehr auf ein vorteilhaftes Bild in der Öffentlichkeit angewiesen ist wie ein Politiker, und das Unheil der üblen Nachrede, das ihn Kopf und Kragen kosten kann, hinter jeder Ecke lauert. Was aber passiert, wenn sich zwischen einem Journalisten und einem Politiker trotz alledem ein sogenanntes Vertrauensverhältnis entspinnt und wenn es wider alle Erfahrung Jahrzehnte Bestand hat, ist einfach beschrieben: Der Ausnahmefall weckt landauf, landab Misstrauen.
In der Bundeshauptstadt Bonn, unter der Käseglocke namens Bonn am Rhein, war leicht zu erkennen, wer mit wem konnte und wer nicht. Mit einem konnten die wenigsten, mit dem als explosiv bekannten Spitzen-SPD-Mann Herbert Wehner. Die Ausnahme war  der Bonner NDR-Korrespondent Jürgen Kellermeier, dem dann im NDR ein mustergültiger Aufstieg gelang. Ihm imponierte Wehner; er verehrte ihn womöglich sogar in der Tiefe seines Herzens, aber weder Politiker noch Journalisten kreideten es ihm an.  Kellermeier strahlte gewissermaßen von Natur Unbestechlichkeit aus und nahm nichts ernster als seinen Beruf. Charme und Witz, über die er verfügte, begrenzte er, ein Preuße aus Bielefeld,  aufs Privatleben, Ruppigkeit, die ihm ebenfalls nicht fremd war, auf den internen Dienstbetrieb.
Was Wehner den Kommunisten von ehedem, der Stalins großer Säuberung entkam und sich unter größten, mühsam verbissenen seelischen Schmerzen zum Sozialdemokraten der Sonderklasse wandelte, und Kellermeier, den Jour-nalisten mit SPD-Parteibuch, füreinander wie geschaffen aussehen ließ, ihre Annäherung auf vermintem Gelände nebst dem daraus resultierenden langen Zusammenwirken hat jetzt Kellermeiers Kollege Rudolf Großkopff als ein Stück Mediengeschichte beschrieben: Es gibt verblüffende Ähnlich-keiten und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Männern, von der zierlichen Handschrift über die unauffällige Kleidung mit Schlips und Kragen bis zu solidem Wohngeschmack, und das sind nur die Äußerlichkeiten. Vor allem gibt es kompatible Denkweisen, die es beiden erlauben, sich aufeinander einzurichten und dabei den eigenen Standpunkt zu suchen und zu finden.
Großkopfs Beschreibung ist schlüssig und lehrreich zugleich. Eins allerdings lehrt sie nicht: Wie andere das Spiel nachahmen könnten. Voraussetzung waren zwei unverwechselbare Charakterdarsteller der Politik und des Journalismus.

Rudolf Großkopff, Die Macht des Vertrauens. Herbert Wehner und Jürgen Kellermeier. Die ungewöhnliche Beziehung zwischen einem Politiker und einem Journalisten. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2011, 96 S., 12,95 Euro

Montag, 11. April 2011

Draußen vor der Tür – zweimal

Hans Quest als Heimkehrer Beckmann – ein Foto mit seinen Altersspuren aus 65 Jahren. Die Theaterfotografin Rosemarie Clausen, eine der Besten in ihrem Fach, hat im Herbst 1947 nicht nur den Schauspieler Hans Quest in der Rolle des Unteroffiziers Beckmann fotografiert, sie porträtierte eine Generation, die Fragen an die Älteren stellte und keine Antworten bekam. Zum Beispiel die Frage nach der Verantwortung im Fall eines sogenannten Befehlsnotstands. In der kurzen Epoche zwischen dem Kriegsende und der Währungsreform unterschieden sich die Deutschen durch unterschiedlich entwickelte Schwielen am Gewissen, und die Antwort auf die Frage, wer wie lange in Hitlers Wehrmacht dabeigewesen war, fiel ins Gewicht. Dabei gewesen zu sein, hieß, Täter gewesen zu sein.
2011
Der alte Guckkasten dröhnt vom Lärm der Band My Darkest Star. Ich warte darauf, dass die Baupolizei an der Rampe erscheint und die Veranstaltung wegen Einsturzgefahr für das Gebäude schließt. Doch der Lärm darf weiter ungehemmt das Haus erzittern lassen und mein zentrales Nervensystem malträtieren. Ich will die Stöpsel in die Ohren stecken, die mir eine fürsorgliche junge Dame, mein Alter im Blick, beim Eintritt überreicht hat. Im Dunkeln fallen mir die Dinger prompt aus der Hand, und ich benutze zwecks Lärmdäm-mung meine Fingerspitzen. Unterdessen toben, wie angekündigt, junge Leute mit Down-Syndrom über die Drehbühne, und Felix Knopp, einer der drei Hauptdarsteller, rennt schier unaufhörlich vor ihnen weg. Im Kreis, versteht sich, was besonders gut in den Riesenspiegeln zu beobachten ist, welche die geniale Bühnenbildnerin Katrin Brack schräg über die Spielfläche gehängt hat.

Andere Zeit, anderer Anspruch: Programmheft mit DVD
© jn-foto

Beckmann winselt. Beckmann schreit. Beckmann tobt über die Bühne. Beckmann windet sich auf dem Bühnenbrettern. Alles Elend der Welt hat ihn beim Kragen. Und My Darkest Star rockt, was das Zeug hält. Die Jungs können den Lärm allerdings auch leiser. Das Ganze einhundertvierzig Minuten lang. Das meiste vom Text versteht nur, wer ihn von zu Hause mitbringt. Was gesagt wird, übernehmen in neuer, ziemlich willkürlicher Aufteilung drei Mitwirkende: rockend am Mikrophon Felix Knopp als Beckmann, die auch hier souveräne Barbara Nüsse in fast allen weiteren Rollen, abgesehen von denen, die Peter Maertens als eine Art Hilfskraft beiträgt, wobei er rätselhafter Weise die Gasmaskenbrille auf der Nase trägt, die bis dato Beckmanns Markenzeichen war.
Was da passiert? Der Regisseur Luk Perceval inszeniert auf seine Weise den berühmten Schrei des Heimkehrers Beckmann. Den Schrei des Ex-Unteroffiziers und Heimkehrers aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft, dem zu Hause alles schief geht – selbst der Versuch, den in Russland verpassten Tod in der nassen Elbe suchen. Die Elbe legt ihn einigermaßen lebendig am Strand vor Blankenese ab, und Beckmann bricht auf zu neuen Niederlagen. Wie womöglich aus dem Deutschunterricht erinnerlich: In der berühmtesten Szene platzt Beckmann seinem ehemaligen Oberst ins wohlsituierte Nachkriegsleben. Der Oberst hat ihn, Beckmann, seinerzeit mit einem Stoßtrupp in einen Wald bei irgendeinem russischen Gorodok geschickt hat. Dabei sind elf von Beckmanns Leuten umgekommen. Er, der Oberst, übertrage ihm, Beckmann, die Verantwortung, hat der Oberst seinem Unteroffizier auf den auf den Einsatz mitgegeben. Jetzt will Beckmann dem Oberst die Verantwortung zurückerstatten, aber der Oberst begreift nicht, was Beckmann von ihm will.

1947
Vor 64 Jahren bei der Uraufführung in Ida Ehres Kammerspielen war alles anders als heute bei Perceval. Es gab auf der Bühne nicht nur drei Mitwirkende, sondern ­– wie vom Dichter vorgesehen – fünfzehn, und die Darsteller nahmen ernst, was im Buch stand. Dass dem Autor das wortreiche Pathos selber nicht geheuer war, störte sie nicht. Er lag im fernen Basel mit seinem 26 Jahren wegen kaputter Atemwege auf dem Sterbebett und vertraute einem Journalisten an, sein Stück sei „nur ein Plakat“, und morgen drehe sich keiner mehr nach der Geschichte um. Die Dramaturgie des NWDR, des Vorläufers der Sender NDR und WDR, war anderer Meinung, und sie war es, die recht behalten sollte. Damals im Februar 1947 hungerten wir nach Worten, die auf unsere Existenz passten. Das Hörspiel Draußen vor der Tür schien genau zu passen. Es lief am 13.Februar 1947 zur besten Sendezeit im Radio und hatte enormen Erfolg.
Programmzettel 1947...
                    jn.Archiv (3)
Daraufhin fand Ida Ehre, die Prinzipalin der Kammerspiele, das Stück gehöre aufs Theater. Die Überlebende der Schoah, groß im Überreden von Leuten, nahm den Regisseur Wolfgang Liebeneiner bei der Hand, suchte mit ihm den kranken Dichter Borchert auf und schwatzte ihm die Theaterrechte ab. Der Begleiter Liebeneiner funktionierte bei der Visite quasi als Botschafter der Versöhnung der Deutschen mit den Deutschen. Hatte er doch im Auftrag von Hitlers Propaganda-minister Joseph Goebbels nicht nur wirklich lustige Komödien für die Lein-wand inszeniert, sondern auch zwei Bismarck-Filme, die den Eisernen  Kanzler als Vorläufer des den Deutschen zugelaufe-nen Führers feierten – und obendrein einen perfiden Streifen, der die Euthanasie als Wohltat der Vernunft darstellte. Als Dritter im Versöhnungsprojekt spielte dann in Liebeneiners Inszenierung Erwin Geschonnek den Kabarettdirektor, der Beckmann nicht auf die Bühne lassen will. Der Dritte im Bunde war der Kommunist Geschonnek deswegen, weil ihn das sowjetische NKWD 1939 an die Gestapo ausgeliefert hatte. Bei Kriegsende war er einer der Häftlinge im KZ Neuengamme gewesen, die die SS auf die Cap Arcona verschleppte, auf eins von vier Schiffen in der Lübecker Bucht, die die Alliierten dann bombardieren, weil sie auf ihnen Nazis auf der Flucht nach Skandinavien vermuteten. – Jeder auf der Bühne hatte seinen Teil an der Zeitgeschichte, und zusammen spielten sie Draußen vor der Tür, das Stück des in Basel sterbenden Wolfgang Borchert.
...4 Seiten im Format...
Zeitgenossen mit diversen Schicksalen spielten das Stück virtuos vom Blatt, was nicht verhinderte, dass der hochtrabende Ton einigen Kritikern entsetzlich auf die Nerven gehen sollte, zum Beispiel dem allseits verehrten Friedrich Luft, dem Rezensenten der amerikanischen Neuen Zeitung, oder Fritz Erpenbeck, der das Stück in seltener Eintracht mit dem Kollegen im Westen im sowjetisch lizensierten Theater der Zeit verriss. Wir anderen, ich gestehe es, erlagen Borcherts Pathos. Erlagen wir ihm? Ich geniere mich deswegen bis heute nicht. Es war unser Pathos, das einer neuen, allem Anschein nach verlorenen Generation – und wir sahen eine hinreißende Aufführung.
Ich habe immer behauptet, dass ich mir Gesichter dieser Inszenierung jeder Zeit vor Augen rufen könne. Selbstverständ-lich das Gesicht Hans Quests mit Beckmanns Gasmasken-Behelfsbrille auf der Nase, aber nicht nur seins. Auch das Gesicht Hermann Lenschaus etwa, der den Trottel von einem Gottvater, mit dem Beckmann haderte,  mit kluger Zurückhaltung spielte. Das Gesicht Hermann Schombergs, der sich in die Gestalt des verfressenen Todes, der auf Beckmann nicht angewiesen war, mit spürbarem Genuss gefunden hatte. Oder das Gesicht Erwin Geschonnecks, der als Theaterbesitzer den armen Beckmann mit arrogantem Desinteresse vor die Tür setzte.
... 7,5 x 10,5 cm

Mag sein, dass ich diese Gesichter auch im Kopf behalten habe, weil sie auf den Bühnen präsent blieben. Ihre anderen Auftritte aber habe ich früher oder später mit wenigen Ausnahmen vergessen, oder ich musste sie immer aufs neue mühsam rekonstruieren. Ihre Gesichter in die-serAufführung nicht. Nur über einen weiteren wichtigen Mitwirkenden war ich mir nicht im Klaren. Im Film Liebe 47, zu dem Liebeneiner dann Borcherts Drama umarbeitete, hatte Paul Hoffmann den Oberst gespielt, ein fürs Kino geborener Schauspieler, der für meinen Geschmack immer einen Tick zu schön und zu smart war. Durch meine Erinnerung geisterte beharrlich ein anderer Typ, kein schmalbrüstiger Vetter des Harras aus Zuckmayers Teufels General, sondern eher ein Blockwart oder sonst ein Bonze der NSDAP, rundlich und tückisch und mit Hitler-Schnauz unter Nase, wie diese Kerle in ihren Goldfasan-Uniformen gewesen waren. Nach langer Zeit habe ich den Mann jetzt auf Fotos Rosemarie Clausens von der Uraufführung des Stücks wiederentdeckt. Der Schnauz war ein Oberlippenbart, der sich von Mundwinkel zu Mundwinkel zog. Sonst stimmten die Fotos mit den Bildern überein, die ich im Kopf bewahrt hatte. Soviel als Hilfsbeweis, dass es Theater gibt, das unsereiner nicht vergisst.
Die Aufführung von Draußen vor der Tür im November 1947, ich sah die dritte oder die vierte Vorstellung, war ein Ereignis, das dazu taugte, die Seele umzukrempeln. Um es so persönlich wie nur möglich zu sagen: Die Schwächen des Stückes ebenso beiseite wie die Vorbehalte gegen den Regisseur – Borchert und Liebeneiner haben mir einen Theaterabend beschert,  an den in den Jahrzehnten seither nur die besten heranreichten. Luk Perceval und seine Mitwirkenden sehen es mir hoffentlich nach: Bei dieser Sicht bleibt es auch diesmal.