Freitag, 26. Februar 2010

Der Zeitzeuge Viktor Klemperer

Ein mehr als sechs Jahrzehnte anhaltender Bucherfolg ist zu würdigen: Victor Klemperers Kritik am Nazijargon mit  dem nach wie vor eher befremdlichen Titel  LTI  oder Lingua Tertii Imperii, auf Deutsch Die Sprache des Dritten Reichs,  die zuerst 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen ist,  hat es nun im Stuttgarter Reclam Verlag, bis in die 24. Auflage geschafft. Darüber hinaus: Es handelt sich nicht einfach um eine weitere Ausgabe des berühmten Buchs, sie erscheint vielmehr mit einem Anhang von nicht weniger als 80 Seiten, in dem die Historikerin Elke Fröhlich der mittlerweile dritten oder vierten Generation von Lesern zeigt, was in zeitgeschichtlicher Aufarbeitung eine Harke ist. Zu berücksichtigen ist dabei von vornherein ein erstaunliches Phänomen:  Von den annähernd 280.000 Exemplaren der Auflagen 1 bis 23 sind etwa eine Viertelmillion in der ver­flossenen SBZ/DDR und nur an die 30.000 in Westdeutsch­land an die Leser gekommen, während sich die Gelehrten sich bis dato nicht darüber einigen konnten, um was für ein Buch es sich eigentlich handelt.
Faszinierend und beklemmend zugleich ist die Entstehungsgeschichte:  Victor Klemperer, Sohn eines Rabbiners, geboren 1881 in Landsberg an der Warthe,  tritt gleich zweimal – 1903 und 1912 – zum Protestantismus über. 1906 heiratet er die Pianistin Eva Schlemmer, die Tochter eines ver­krachten evangelischen Landwirts aus Ostpreußen. Sowohl seine Familie als auch die morphium­süchtige Schwiegermutter haben versucht, die Ehe zu ver­hindern, aber das Paar hält zusammen, und die sogenannte Mischehe schützt Klemperer vor dem Zugriff  der Gestapo, als er  auf Hitlers Befehl vom Januar 1933 an wieder als Jude gilt und 1935 vom Lehrstuhl des Professors für Romanistik an der  Dresdener Technischen Hochschule gejagt wird, auf den der Schüler Karl Vosslers 1921 berufen worden ist.  Die Nürnberger Gesetze nehmen den Klemperers  die Luft zum Atmen, die deutschen Mitmenschen, nicht nur Hitlers Partei­genossen,  treiben sie mit Gemeinheiten zur Verzweiflung, während Schergen mit Namen Heydrich oder Eichmann die Schoah in die Wege leiten. 1940 werden Viktor Klemperer und seine Frau aus ihrem Haus geworfen  und in ein Quartier für Juden gesperrt, aus dem sie erst ent­kommen, als alliierte Bomber im Februar 1945  Dresden zerstören.
Klemperers Leben war schon vor 1933 für ihn ein unerschöpfliches Thema. In den Jahren der Verfolgung und der Todesangst hält er sich intellektuell am Leben, indem er unentwegt schreibt. Er verfasst ein Curriculum vitae über seine Jahre von1881 bis 1918, und er setzt Tagebücher vom November 1918 über den Dezember 1932 hinaus bis zum  Juni 1945 fort. Das Curriculum füllt zwei Bände mit zusammengerechnet 1312 Seiten. Nach 1666 Tage­buchseiten bis Dezember 1932 bringen es die persönlichen Notizen in der Nazizeit auf 1534. Da ist unverkennbar ein Grapho­mane am Werk. Der Grundton ist gemischt aus der Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt und dem Mitleid des Autors mit sich sel­ber. Der Leser hält sich vor Augen, sich, dass Klemperer über unsägliche Verbrechen berichtet, die an ihm und anderen begangen worden sind, und  dass er wie seine Schicksalsgenossen jedes Recht auf seine Gefühle hat. Ein Recht, sie ihnen streitig zu machen, gibt es nicht. Trotzdem zerrt  der Ton an den Nerven.
Mit der LTI hat der Leser dieses Problem nicht. Zwar beschäftigt sich Klemperer abermals mit seinem Alltag in den Jahren der Nazi-Herrschaft, aber erstens ufern die Schilderungen hier nicht aus, und zweitens ist er auf der Suche nach dem Thema, das ihm nicht nur als Überschrift dient, sondern ihm auch – so Klemperer selber – als „Balancierstange“ dient. Sein Versuch, die Abgründe der Sprache aufzudecken, mit der Hitler und Goebbels die Deutschen erst zur nationa­listischen Hybris verführt und dann in die Katastrophe gelockt haben, ist und bleibt überaus spannend, aber das Unterfangen scheitert schon im Anlauf. Denn der Philologe Klemperer stößt auf die Schwierigkeit, dass die Nazis zu Propagandazwecken keine neue Sprache aus der deut­schen Scholle stampfen konnten, sondern sich gezwungen sahen, ein vorgefundenes Vokabular so lange zu verdrehen und zu verbiegen, bis es für ihre Zwecke taugte, und mehr als einmal stellt sich heraus, dass sie nicht einmal die ersten waren, die ein Wort umgewertet haben.
Das Paradebeispiel findet sich auf Seite 70 ff: Klemperer hat schon 1940 im Tagebuch notiert: „Seminarthema: feststellen lassen, wie oft fanatisch und Fanatismus an offizieller Stelle gebraucht wird.“ Drei Jahre später kapituliert er angesichts dieser Aufgabe: „Der Gebrauch ist Legion, fanatisch kommt so häufig vor wie Töne im Saitenspiel, wie Sand am Meer.“  Und immer oder fast immer soll der Fanatismus den Nationalsozialisten zieren. Doch dann zeigt sich, dass schon die französischen Revolutionäre von 1789 das Wort, das traditionell eine schlimme Leidenschaft bezeichnet, zur kämpferischen, zur heroischen Parole umgemünzt haben. Was am Ende als erwiesen gelten kann,  nämlich dass Goebbels & Co. von fanatisch und Fanatismus im positiven, nicht-pejorativen Sinn „quantitativen Höchstgebrauch“ gemacht haben, ist weniger, als zu erwarten war, aber der Weg, der zu diesem Resultat führt, lohnt die Mühe.
Um den Kalamitäten der Wortgewichtung auszuweichen, erfindet  Klemperer etwas, was zu seinen Gunsten seit Jüngstem „soziolinguistische Analyse“ genannt wird (Elke Fröhlich in ihrem Nachwort, S. 415). Das hieße: Zur LTI gehören nicht nur Wörter, sondern auch die Architektur Albert Speers, die Aufmärsche zu den Reichsparteitagen in Nürnberg und die Uniformen. Das dürfen wir getrost so sehen; dass es uns voranbringt, bleibt zu bezweifeln.  Es läuft darauf hinaus, dass der Nationalsozialismus soetwas  wie ein Gesamtkunstwerk gewesen sein könnte, was auf ein wissenschaftliches  Glasperlenspiel hinausliefe, von dem wir besser die Finger lassen.
Außerdem bringt es uns aufs Braunhemd der SA, und der Gedanke daran ist Klemperers Nachruhm leider abträglich. In der LTI vergleicht er das Braunhemd mit dem Schwarzhemd der italienischen Faschisten, woran zunächst nichts auszusetzen ist.  Nur leider ist Viktor Klemperer, nachdem er die Professur zurückerhalten hatte, im Hörsaal im Blauhemd der FDJ aufgetreten. Die eindeutige Reaktion von Augenzeugen hatte er sich selber zuzuschreiben.  Sie lautete: „Er hätte doch wissen müssen, was er da anzog, gerade er“ (der Publizist Klaus Geitel, seinerzeit Romanistik-Student in Halle). Dass Victor Klemperer nach dem Mai 1945 seine Sprachsensibilität verlor und „in beinahe tragisch anmutender  Weise einem ideologischen Irrtum“ erlag, ist Elke Fröhlichs Version dieses Kapitels seines Lebens. Es war und blieb ein Makel. Daran, dass die LTI ein Zeitzeugnis ersten Ranges ist, ändert es nichts.
Jost Nolte


Victor Klemperer
LTI - Lingua Tertii Imperii
416 S., 23,95 €
Reclam, Stuttgart 2010

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