Sonntag, 29. Mai 2011

VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN

Wegen einer Unpässlichkeit des Autors ist das Weblog http://befindlichkeitenjn.blogspot.com, auch zu finden bei Google unter jost nolte, Randbemerkungen, vorübergehend geschlossen. Das Archiv bleibt im Netz.

Freitag, 20. Mai 2011

Die Demjanujuks sind unter uns

Der Ukrainer John Demjanjuk wollte sein Leben vor den Deutschen retten und leistete zu diesem Zweck 1943 im Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen. Im Alter von 91 Jahren endlich angeklagt, spielt er vor dem Landgericht München den todgeweihten Deppen. Sein Anwalt zieht mit 519 Anträgen gegen die Strafkammer zu Felde zu und bezichtigt sie der Verletzung von Menschenrechten. Die Richter verurteilen den Angeklagten zu fünf Jahren Haft und schicken ihn mangels Fluchtgefahr bis zur erhofften Rechtskraft des Urteils nach Hause. Gegebenen Falles soll sein Gesundheitszustand  den Ausschlag geben, ob er tatsächlich hinter Gitter kommt.
Bahnstation Sobibor                                                   holocaustpicture.net
Mir fällt der Mai 1945 ein. Das Wetter ist schön – ein Jahrhundert-Mai. Er versöhnt selbst Leute halbwegs mit ihrem Schicksal, die von der Besatzungsmacht vor die Tür ihrer Bergedorfer Villen gesetzt worden sind, weil die Engländer es sich im vergleichsweise  einladenden Viertel selber bequem machen wollen. Immerhin, sagen sich die Eingeses-senen, der Krieg ist aus, und wer ihn überlebt hat, muss es zu schätzen wissen; es gilt abzuwarten, was kommt. Jedenfalls die normalen Besiegten sagen es sich.
In der Hansa-Schule an der Bismarck-Straße, 1949 umbenannt in Hermann-Distel-Straße, weht ein anderer Wind. Die höhere Lehranstalt ist 1914, zwei Wochen vor Beginn des ersten Weltkriegs, aus ihrem Gründungsquartier ein paar Straßen weiter in einen imponierenden Emil-Schumacher-Bau umgezogen. Nun, am Ende des zweiten Teils des deutschen Untergangs, ist er bis unters Dach mit Verwundeten der Wehrmacht belegt. Die Feldschere des Führers operieren noch. Die Patienten hinken an Krücken über den Schulhof, oder ihre Arme stecken in Gips. Anderen geht es besser, aber sie versuchen, ihren Aufenthalt möglichst auszudehnen. Die Alternative ist, als Prisoner of War hinter Stacheldraht auf einem Acker Segeberg zu vegetieren und nicht viel mehr zwischen die Zähne zu bekommen als Gras.
Die Vorstellung, dorthin zu geraten, ist alles andere als angenehm. Doch es gibt Leute, die größere Sorgen haben. Mancher von ihnen hat es eilig, die Tätowierung loszuwerden, die ihnen der Reichsführer SS Heinrich Himmler verpasst hat: die Blutgruppenbezeichnungen A, B, AB oder 0 (ohne Rhesusfaktor), Größe 1 x 1 cm, eingeritzt 20 Zentimeter über dem Ellenbogen auf der Innenseite des linken Arms, der – so die Statistik – Soldaten seltener weggeschossen wird als der rechte. Das Brandmal ist in erster Linie als Notfallhilfe für Verwundete gedacht, die eine Transfusion brauchen. Ein kurzer Blick unter den Arm genügt, und der richtige Tropf, sofern greifbar,  kann in Funktion treten. Die Nebenwirkung kommt Himmler vermutlich ebenfalls zupass. Seine SS-Männer kämpfen verbissener, wenn sie wissen, dass nicht nur deutsche Sanitäter, sondern auch sowjetische Kommissare die Zeichen unter dem Arm lesen können.
Demjanjuks Dienstausweis

johann-foto
Mitte Mai 1945 ist Himmler vorerst verschollen, und die Rote Armee ist nicht bis Bergedorf gekommen. Wie die Sieger im Westen auf Himmlers Tätowierung reagieren, ist jedoch nicht abzusehen, und darum floriert irgendwo im zweckentfremdeten Schulbau ein Eildienst für die Beseitigung verräterischer Tattoos: Komm her, Kamerad, wir lösen dein Problem, du hast schon anderes ausgehalten. Oder so ähnlich. Nach der  Entfernung von einem Quadratzentimeter Haut wird dem SS-Mann ein neues Krankenblatt  zugesteckt: Oberarmdurchschuss links. Anzunehmen ist, dass es, die deutschen Provinzen rauf und runter, während des ganzen Kriegs nicht so viele linke Oberarmdurchschüsse gegeben hat wie jetzt.
Beim Sonnenbaden im Garten neben der Turnhalle, in der in zweistöckigen Betten ebenfalls Verwundete untergebracht sind, gerät einer ins Plaudern. Er gibt mit Weibergeschichten an.  Ort der Handlung: das KZ Neuengamme. Ja, SS-Frauen hat es dort auch gegeben. Stramme Personen. Einige waren allerdings unangenehm aufdringlich, und eine der Kameradinnen hat er eines Nachts unverhofft in seinem Bett angetroffen. Sie war nicht sein Typ, und er hat es ihr gezeigt, indem er ihr mit dem gewünschten Erfolg einen Kübel kaltes Wasser über den nackten Balg gegossen hat. Zeternd ist sie abgezogen. Der Kamerad lachte schallend, wechselt plötzlich das Thema und wird ernst. In Neuengamme, sagt er, ist es hart zugegangen. Sehr hart. Aber damit hat er nichts zu tun gehabt. Er ist bei den bei den Wachmannschaften gewesen. In Feldgrau. Er hat nur seine Pflicht getan und gehorcht. Persönlich hat er niemanden und nichts auf dem Gewissen.
Ich höre zum ersten Mal einen Täter so reden. Der Befehlsnotstand und die Formel kommunikatives Beschweigen als Erklärung für die angebliche staatspolitische Notwendigkeit, NS-Täter ungeschoren zu lassen, sind noch nicht ausformuliert; in den Köpfen rumorten sie schon. Vom redseligen SS-Mann des Jahres 1945 im Garten der Bergedorfer Hansaschule unterscheidet den Angeklagten Demjanjuk im Jahre 2011 nur, dass er kein Deutscher war, sondern Hilfswilliger aus der Ukraine. Zur Einsicht bringt ihn der Richterspruch gewiss nicht mehr, und er macht nichts gut. Das Urteil des Münchner Landgerichts hätte gute Chancen im Wettbewerb um unverhältnismäßige Urteile in der Rechtsgeschichte.
Die Richter haben Demjanjuks Menschenrecht mit Füßen getreten, wie sein Anwalt behauptet? Nach Lage der Dinge mussten sie lavieren, wenn sie den Angeklagten nicht freisprechen wollten, und wäre unerträglich gewesen, ihn laufen zu lassen. Unerträglich waren das  Schmierentheater, das Demjanjuk in 93 Verhandlungstagen in München aufführte, und die Kraftmeierei seines Anwalts.

Dienstag, 10. Mai 2011

Hiob, genannt Matthias Matussek

Über das westfälische Münster weiß der Rest der Welt heutzutage, dass dort Kriminalkomissare/innen, Gerichtmediziner und Privatdetektive fürs Fernsehen, allesamt sympathisch,  auf den Bäumen wachsen. Am heiligen Abend des Jahres 1954 pflegte eine sechsköpfige Familie – Vater, Mutter, vier Söhne – ein  anderes Genre. Unter der herausgeputzten Tanne führte der Nachwuchs ein Krippenspiel auf. Hauptdarsteller auf Heu und Stroh war, ohne Text, der damals jüngste Zugang im Zwei-Zimmer-Haushalt, gerade einmal sechseinhalb Monate alt. Die Mutter lächelte ihr Feiertags-Madonnen-Lächeln, der Vater strahlte Liebe, Verantwortung und Fürsorge aus. Münster war eine rabenschwarze Bistumsstadt, der Katholizismus war Leitkultur.
Krippenspiel, Münster 1957                        Foto: Matthias Msatussek
Vierundfünfzig Jahre später hätte der Darsteller des Jesuskindes von dazumal, Mathias Matussek, nichts dagegen, wenn alles geblieben wäre, wie es seinerzeit war. (Nur die Wohnung dürfte etwas größer sein.) Er ist aufgewachsen im selbstgewissen Glauben, den ihm die Eltern vorgelebt haben, und er ist ihren Überzeugungen treu geblieben. Davon abgesehen ist er einer der begabtesten Köpfe im kritischen deutschen Journalismus. Wie er beides zusammenbringt, frappiert gehörig.
Der Ironiker von Gottes Gnaden, zückt das Florett, wenn jemand es wagt, Ehre und Weisheit der römisch-katholischen Kirche in den Schmutz zu treten. Notfalls schwingt er den Knüppel. Seine beste Waffe aber ist sein Witz, und im Fall von Sympathie und Freundschaft soll Gnade walten. Dem Kollegen Henryk M. Broder, der gern als brillanter Gottesleugner unterwegs ist, vergibt Matussek sogar den Atheismus. Mit Broder geht es ihm offensichtlich wie dem Rabbiner, der dem Streithammel neulich an den Kopf geworfen hat, er wisse gar nicht, wie jüdisch seine Synapsen funktionieren. Seele grüßte Seele, und Broder lächelte geschmeichelt. Die Verbundenheit im Glauben funktioniert auch noch in der Negation. Fast packt mich blanker Neid. 
Mit der Kirche und ihren Päpsten, sagt Matussek, hat er zeit seines Lebens Glück gehabt. Natürlich weiß er, dass im Vatikan auch schon andere Stellvertreter Gottes, dass sogar Bösewichte auf Petri Stuhl Platz genommen haben, aber die gegenwärtige Bilanz macht ihm Mut. Im Übrigen: Der Mensch muss glauben; andernfalls müsste er verzweifeln – glauben auf die unterschiedlichste Art. Schwerste Rätsel sind inbegriffen. Psalm 139 will, dass dem Menschen gewiss ist, Gott erforsche und kenne ihn. Im selben Atemzug singt die Gemeinde, der Allerhöchste solle die Blutgierigen verjagen und die Gottlosen von der Erde tilgen. Was für ein Christentum ist es, das darum fleht?
Einwände gegen Glaubensvorstellungen müssen im Einzelnen diskutiert werden; am Recht des Vatikans, sich in Fragen des Umgangs mit Gott das letzte Wort vorzubehalten, soll nicht gedeutelt werden, solange die Kirche sich selber treu bleibt. Das Wort hat der Missionar Matussek. Er bekennt seinen Glauben und löst Titel und Untertitel ein: Das katholische Abenteuer – Eine Provokation.  Er will jedermann den Satan austreiben. Zum Glück ist auch der Witz eine Waffe. Der kongeniale Umschlag seiner 358-Seiten-Gehirnwäsche signalisiert es. Über dem Titel schwebt ein ulkiger gelber Heiligenschein, den Vornamen des Verfassers schmücken zwei rote Teufelshörner, die Unterzeile erwischt ein schwarzer Dreizack gerade noch bei der letzten Silbe, am Hinterteil sozusagen.
Einige Fragen drängen sich dem Andersdenkenden auf. Wer evangelisch getauft und konfirmiert ist, kehrt offenbar seiner Kirche leichter den Rücken als ein Katholik, und die Abwendung schmerzt ihn weniger. Aber: Für wen und gegen wen spricht diese Erfahrung? Der katholische Klerus versteht sich besser darauf, Schafe einzufangen, als die Pfarrer der Reformation, und er bewacht den Pferch besser; für den Fall, dass die Herde oder einzelne Tiere trotzdem ausbrechen, pflanzt er ihnen ein wirksames Heimweh-Gen ein. Aber: Was, wenn seine Mutter Kirche lediglich die bessere Propaganda zu bieten hätte, und die Freiheit des  Christenmenschen, bis hin zum Verzicht auf das Christentum, das höhere Gut wäre? Dass vielen, wenn nicht den meisten Menschen Schrecken und Verzweiflung in die Glieder führen, wenn sie erkennen müssten, dass der Himmel leer ist, bleibt anzunehmen. Aber: Abgesehen von den Sternen, ist der Himmel sehr wahrscheinlich wirklich leer.
DVA, 360 S., 19,99 €
Zugegeben schließlich, der Mensch ist ein Mängelwesen. Unter anderem man-gelt es ihm an Gewissheiten, und wer sie vortäuscht, muss sich überlegen, was er tut. Gläubige wie Ungläubige wissen zu wenig von dem, was ihnen zu wissen gut täte, und selbst was sie gewisslich für wahr halten, vermasseln ihnen konstitutionelle Schwächen – ihre Vergesslichkeit, ihre Ungeduld, ihre Black-outs. Wie der Autor Matthias Matussek behilft sich darum jedermann gern mit Vermutungen, die er je nach Geschmack auch Ahnungen, Annahmen, Meinungen, Überzeugungen oder Glauben nennt, und manch einer trägt so schwer an den schicksalhaften Mängeln, dass er verzweifelt nach Linderung zum Himmel schreit.
Der zuständige Heilige heißt Hiob; er ist im Alten Testament der Leidende schlechthin. Trost verspricht seinen Nachkommen allein, dass es so viele Hiobs gibt. Ein probater Weg aus dem  existentiellen Elend: Die Hiobs dieser Welt schließen sich zusammen, gründen eine Notgemeinschaft, stiften eine Heilslehre, bauen Tempel und streben danach, möglichst alle verlorenen Seelen unter ihrem Dach zu versammeln. 
Daraus bezieht Matthias Matussek seine Einsichten. Sie tragen zur Wahrheitsfindung bei; anzuzweifeln sind sie der erwähnten Ungewissheiten wegen trotzdem. Eins aber trifft ebenfalls zu: Die Theologie überlässt der Provokateur Matussek den Theologen. Ihm ist es um den lebendigen Glauben zu tun, und mit ihm trumpft er so glänzend auf, dass es gelegentlich selbst einen eingeschworenen Atheisten aus dem Lesesessel reißen will. Ich behaupte nicht, dass ich schon auf dem Weg zum nächsten Pfarramt war, um nach einem Aufnahmeformular zu fragen, aber ich ertappe mich dabei, wie ich mir die Szene ausmale. Matthias Matusseks katholisches Abenteuer ist nicht nur bestechende Literatur, es ist auch eine Verlockung. 

Freitag, 6. Mai 2011

Feindstrafrecht

Staatsfeind Geronimo (rechts) mit Kampfgefährten                                    Abb: jn-archiv*

Heribert Prantl im Kommentar der Süddeutschen Zeitung von heute: „Das sogenannte Feindstrafrecht propagiert den Ausschluss eines Menschen, eines Feindes, aus dem Recht. Die USA hatten politisch offenbar beschlossen, dass für Bin Laden, der sich von jeglichem Recht entfernt hatte, ein Ausschluss aus dem Recht gelten soll.“ Prantl greift in die richtige Kiste. Falsch ist nur der Eindruck, es handele sich um etwas Neues. Vielmehr übersetzt schon Nicodemus Frischlin in seinem  Nomenclator aus dem Jahre des Herrn 1586 das lateinische Adjektiv exlex mit vogelfrey. Frischlin erklärt, der so gestellte Mitmensch sei „dem Angriffe jedermanns freigegeben, ohne gesetzlichen Schutz, geächtet“, und er fügt hinzu, der Ausdruck gehöre nicht der "alten Rechtssprache" an. Als vogelfrei, so erfahren wir ferner im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (Bd.26, Sp.407ff), gelten unter Gelehrten zum Beispiel der Spitzbube und der Hanswurst. Mit einer Erörterung modernen Feindstrafrechts handelte sich vier Jahrhunderte später der Regensburger Rechtswissenschaftler Günther Jakobs erhebliche Kritik ein. Ein juristischer Dauerbrenner also, bei dem es noch nie um Buchstaben von Gesetzen ging, sondern immer nur um Macht und Gelegenheit, wenn es galt, andere für exlex zu erklären und gewaltsam zum Tode zu befördern.
Und noch etwas: Der Deckname, den die US-Behörden dem Überfall der Navy Seals auf Osama Bin Ladin im pakistanischen Abbottabat gaben, lautete bekanntlich Geronimo. Das passte insofern, als Geronimo (1829-1909), der Kriegshäuptling der Chiricahua-Apachen, die weißen Amerikaner seiner Zeit zur Weißglut trieb. Dass ihn keine Kugel töten werde, versprach er seinen Anhängern dennoch hoch und heilig, und so kam es tatsächlich. Als der Staatsfeind einsehen musste, dass er den Weißen nicht gewachsen war, einigte er sich irgendwie mit ihnen. Statt noch länger mit Pfeil und Bogen zu schießen, begann der Liebhaber langer Flinten (s.Abb.), mit  den Waffen der Rothäute einen schwunghaften Handel zu treiben. Im Alter von 80 Jahren stürzte er von seinem Pferd in ein Bachbett. Drei Tage später starb er ganz unheroisch an Lungenentzündung
* Mit besten Dank für den Hinweis auf das Bild an die FAZ, die Geronimo heute morgen auf ihre Seite 1 gestellt hat 

Montag, 2. Mai 2011

Splitter: Osama, Karski, Rinser

US-Spezialkräfte haben in Pakistan Osama Bin Ladins Versteck gestürmt und den Terroristen erschossen. Big Apple tanzt um Ground Zero, und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und Oberbefehlshaber ihrer Streitkräfte Barack Obama lobt die präzise Arbeit der CIA und den Mut der Truppe. – Die Weltmacht hat zum letzten Mittel gegriffen, und niemand soll in Zukunft Obama unterschätzen und ihn einen Feigling nennen.
*
Jan Karskis Bericht an die Welt ist endlich auf Deutsch erschie-nen, das Buch, das der Kurier des polnischen Widerstands und der in Polen von der Schoah bedrohten polnischen Juden schrieb, nachdem 1942 seinen wahrheitsgemäßen Bericht weder der britische Außenminister Neville Chamberlain noch der amerikanische Präsident  Franklin D. Roosevelt geglaubt hatte. (Antje Kunstmann Verlag, München 2011, 528 S., 28 €) – Wer nach den Tragödien im 20. Jahrhundert fragt, kommt an Karski (1914-2000) nicht vorbei.
*
Vor zwei Tagen  wäre die Schriftstellerin Luise Rinser 100 Jahre alt geworden. Ihr exzeptionelles  Gutmenschentum hat sie vor neun Jahren ins Grab mitgenommen. Ihre Biographie ist so erstaunlich wie lehrreich. (S. Fischer Verlag, Frankfur/M 2011. 464 S., geb., 22,95 €)

Sonntag, 1. Mai 2011

Hässliches Restrisiko

Fascinosum: Strommast von unten 
Windräder  in der Nordsee bis an den Horizont, auf schwäbischen Anhöhen und auf bayerischen Berggipfeln, dazwischen unzählige Überlandstromtrassen, die das Land zerschneiden,  alles bedeckende schwarzglänzende Sonnen- und Vakuum-röhrenkollektorenanlagen nebst öden Anbauflächen für Getreide, das als Regelbrennstoff gemäß der Anfang 2010 novellierten 1. Bundes-Immissionsschutz-verordnung (BImSchV) vorgesehen ist. Deutschland verheizt seine Schönheit, Hässlichkeit als Schicksal der Nation... Wer sagt, dass es so kommen muss? 
Das Ruhrgebiet ist schöner geworden, seit Zechen und Gruben geschlossen wurden. Allerdings stieg dort  die Arbeitslosenquote zeitweise um mehr als 300 - in Worten dreihundert Prozent an, und die vielgerühmte neue Schönheit des Landstrichs ist aufs neue bedroht. Windräder und Strommasten schießen auch hier aus dem Boden oder werden sich demnächst  gen Himmel recken. Schuld an dem Malheur sind nicht die die beteiligten Ingenieure. Dass ihnen die Ästhetik ihrer Produkte Hekuba ist und dass entsprechend aussieht, was sie in Wälder und Auen klotzen, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sie liefern, was bestellt ist. Der gegenwärtige Befund ist banal: Wie ehemals die Kühltürme und heute die Atommeiler haben Windräder ersichtlich Schönheitsmängel, es gibt nur viel mehr von ihnen. Umso mehr Andstoß erregen sie. während künstliche Staudämme faszinieren können, und der Anblick eines Strommastes von unten eher zufällig den Blick fesselt.
Windräder: Monstren in der Landschaft 
Auf Abhilfe können wir nur hoffen: Auch wenn sie nur noch Museumsstücke oder zweckent-fremdet sind, begeistern alte Mühlen bis heute. Gewiss können wir die neuen Windräder nicht einfach ins Historische umstylen, zur Anregung kreativer Köpfe unter den Designern könnten die Beispiele vergangenen Bauhandwerks dennoch taugen. Versuche wären jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos. Zwar neigt der Mensch dazu, sich an seinen Geschmack zu klammern, aber nicht nur die Geschichte der Mode lehrt, dass sich Sehgewohnheiten dennoch wandeln. Die Annahme, dass unweigerlich hässlich bleibe, was hässlich sei, ist zum Glück grundfalsch. 
À propos Spargel: Von ihnen zu reden, überließ kürzlich im ZDF Winfried Kretschmann dem Moderator Klaus Kleber, der ihm das Wort offenbar gern in den Mund gelegt hätte. Kretschmann, den Grüne und SPD in Stuttgart in der nächsten Woche zum Ministerpräsidenten wählen wollen, bekräftigte seine Pläne, Windparks dort anzulegen, wo in Baden-Württemberg der Wind weht, auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald. Der gelernte Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik zeigte jedoch, dass er hinreichend mit politischen Wassern gewaschen war. Er wusste, dass ihm Klebers Scherz um die Ohren fliegen konnte und bog ihn ab. Seine Geistesgegenwart wird er weiterhin benötigen, wenn seine Landsleute demnächst die Wanderstiefel schnüren, den Lemberg (1.015 m ü. NN) oder den Feldberg (1.414 m ü. NN) erklimmen und sich dort von Windrädern umzingelt sehen.
Mühle in Holland: Ihr eigenes Denkmal
Der Ernst der Angelegenheit drängt sich auf: Seit der Katastrophe im Hochtech-nologie-Land Japan sehen sich Fachleute auch bei uns zu dem Eingeständnis genötigt, dass sie nicht wissen, ob ein Kern in einem ihrer Atommeiler noch heute, erst morgen, vielleicht in 200 Jahren oder niemals schmelzen wird. Ihrer Weisheit letzter Schluss sind sogenannte probabilistische Sicherheitsanalysen, mit deren Hilfe sie Erfahrungen mit Störfällen so gewissenhaft wie möglich auswerten mögen, aber zu ihrem und unserem Leidwesen regelmäßig an Szenarien scheitern, „die zwar denkbar, aber in ihrer Wahrscheinlichkeit nicht quantifizierbar sind“.
Genau dies will die Vokabel Restrisiko sagen. Dummer Weise verführt sie stattdessen dazu, den Sachverhalt zu verharmlosen. Denn: Wir sind es gewohnt, Reste wegzuwerfen; darum überhören wir, dass in der Doppelvokabel ein unbekannter Rest das vermeintliche Risiko als das zeigt, was es ist – als grundsätzlich undurchschaubare Gefahr. Sie besteht darin, dass irgendwo auf der Welt zu einem Zeitpunkt, den keiner kennt, und aus Gründen, die niemand vorhersagen kann, ein Atomkern außer Kontrolle geraten kann. Es wäre die vierte Katatrophe nach Harrisburg (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), und ereignen kann sie sich in irgendeinem Winkel der Welt. Die einzige Vorbedingung ist, dass dort ein Atomreaktor steht. 
Winfried Kretschmann und andere besorgte Zeitgenossen haben recht, wenn sie behaupten, dass das Restrisiko niemandem zuzumuten ist, wo immer er lebt. Das Weitere fällt unter die Weisheit, dass die Lösung von Problemen den Homo sapiens regelmäßig in neue Probleme verstrickt. Dabei die Ästhetik in den Wind zu schlagen, wäre eine Dummheit. Klug wäre es hingegen, mit dem Wind zu spielen, um auf neue Gedanken zu kommen.
Windspiele am Strand von Warnemünde 
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