Donnerstag, 30. September 2010

Schill ad portas

ein Schrecken in der Morgenstunde: Ich überquere zu Fuß eine Kreuzung. An der Ampel wartet ein Truck, der die Route 66 mühelos bewältigen würde. Ebenso voluminös wie sein Fahrzeug thront der Fahrer hinter dem Steuer. Im Fenster vor sich hat er die BILD-Zeitung ausgebreitet, als wäre ihre Balken-Überschrift die Freudenbotschaft des Tages an mich, den Mann aus dem Volke: Schill zurück in Hamburg. Daneben prangt ein Foto Schills. Der Rechts-außen-Senator, mit dessen Hilfe sich der weiland Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust (CDU) an der Macht gehalten hat,  bis ihm der Kollege sittlich-moralisch ans Leder wollte, trägt Al Capones Sonnenbrille auf der Nase.
BILD im Fenster eines Ritters der Straße als Schills mobile Plakatsäule? Ich darf behaupten, dass ich von Natur nicht sonderlich ängstlich bin, aber der Anblick reicht für eine Gänsehaut.
Mit den besten Grüßen Ihr Jost Nolte

Mittwoch, 29. September 2010

Die Vergewaltigungen waren der Fall

Die Nation scheint mit der Debatte über ihre Gegenwart und die andrängende Zukunft ausgelastet zu sein. Politrentner, die uns die Lage erklären, halten uns in Atem. Doch nach wie vor wartet auch in den Archiven der Zeitgeschichte Arbeit. Der Verfassungsjurist Ingo von Münch verlangt, dass über die Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 gesprochen wird: Ein Buch (208 S., 19,90 €, Ares-Verlag, Graz) und ein Briefwechsel

Lieber Herr von Münch,
offene Worte können Freundschaften kosten, zumal dann, wenn Schriftsteller sie an Kollegen richten. Ich habe da leidige Erfahrungen. Sie besagen: Auf Kritik so professionell zu reagieren wie Goethe auf Schillers Beanstandungen des Wilhelm Meister, bringen nur wenige fertig – siehe den Briefwechsel der Dioskuren. Doch keine Sorge, ich ziehe nicht gegen Ihr Buch zu Felde, weder gegen die Machart noch gegen Ihre Überzeugungen. Unter der Überschrift Frau, komm! collagieren Sie Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen 1944/45 und damit Taten, die nach heute geltendem Völkerrecht Verbrechen sind und nach Ihrer Rechtsauffassung schon nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 verboten waren. Und: Sie verlangen, dass über diese Taten – wenn sie schon nicht gesühnt werden – wenigstens geredet wird. Sie halten sich an ernstzunehmende Quellen und kommentieren sie angemessen. Trotzdem machen mir einige Fragen zu schaffen, und die haben mit persönlicher Erfahrung zu tun.
Eine Szene, die sich Anfang Februar 1945 im klirrend kalten Pommern abgespielt hat: Unsere Schwadron, sie gehört zum Stolper Reiterregiment 5, erhält den Befehl, ein Dorf zu räumen, in dem sie auf dem Weg zur Front Quartier gemacht hat. Wir satteln die Pferde, sitzen auf und reiten in Richtung Westen. Zurück bleiben Frauen, Alte und Kinder, denen Hitlers Gauleiter verboten hat, rechtzeitig auf den Treck zu gehen. Was geschieht, wenn jetzt die Russen nachrücken, weiß jeder. Dafür hat der Reichspropagandaminister Goebbels schon nach dem Massaker von Angehörigen der Roten Armee im ostpreußischen Nemmersdorf im Oktober 1944 gesorgt, unmittelbar nach den ersten Gewalttaten der Sieger auf deutschem Boden, und diese Untaten wiederholen sich tagtäglich, seit die Rote Armee unaufhaltsam nach Berlin marschiert.  Niemand zweifelt daran, dass die Menschen in dem Dorf, das wir im Morgengrauen räumen, das gleiche Schicksal erwartet. Eine Frau läuft der abrückenden Schwadron nach, bleibt schließlich erschöpft und verzweifelt stehen, breitet die Arme aus und schreit: „Ihr könnt uns doch nicht allein lassen!“ Wir haben Befehl, sie allein zu lassen, und wir gehorchen. Was aus dieser Frau geworden ist, weiß ich nicht; wie sie in Eis und Schnee auf der Dorfstraße stand und schrie, habe ich noch heute vor Augen und im Ohr.
Jahre später habe ich mich dann durch die acht Bände der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa gegraben. Die Historiker Theodor Schieder, Werner Conze, Hans Rothfels und andere hatten sie im Auftrag des Bundesministers für Vertriebene Theodor Oberländer erstellt. Der Minister saß in zwei Kabinetten Konrad Adenauers, bevor ihn, wie man es zutreffend nannte, seine Vergangenheit einholte. Den Nazis war er schon 1923 beim Marsch auf die Feldherrnhalle zugelaufen. Im Dritten Reich hatte er ihnen die sogenannte Ostforschung organisiert. Seine Vertriebenenpolitik war so gerade gekämmt wie sein Scheitel. Wie einige seiner Hilfswilligen waren die Historiker Schieder und Conze mit befleckter politischer Weste aus der Diktatur in die Demokratie übergetreten. Rothfels, 1934 als Jude von seinem Königsberger Lehrstuhl  gejagt, 1939 emigriert und 1951 nach Deutschland zurückgekehrt, passte insofern in die Gesellschaft, als er streng konservativ dachte und Kommunisten nicht ausstehen konnte. Wie zu erwarten war, schlug dem Gemeinschaftswerk der Gelehrten Misstrauen entgegen, aber sie beherrschten ihr Fach und hatten gelernt, vorsichtiger zu argumentieren als dazumal. Darum hatte Thomas Darnstädt recht, als er im Spiegel befand, die Dokumentation sei “eine der beeindruckendsten Sammlungen über das Elend am Ende des Krieges“.
Flüchtlingsfrauen im Frühjahr 1945                Foto: Ares-Verlag.com
Doch die Sammlung war nicht nur beeindruckend, sie war unerträglich, und das nicht so sehr wegen des Verdachts auf Manipulation seitens der Mitwirkenden. (Zum Beispiel blieben die Todesmärsche unerwähnt, auf denen die SS Häftlinge der Konzentrationslager vor der näherrückenden Front hergetrieben hatten und die – nicht nur aus der Vogelperspektive – eine Sonderform der Vertreibung gewesen waren.) Unerträglich waren die versammelten Berichte vor allem deswegen, weil in ihnen eine Gewaltszene nach der anderen Revue passierte und weil die Untaten nicht nur den Opfern den letzten Rest von Würde raubten; sie entwürdigten, auch die Täter.
Heinrich Himmler hatte geschworen, die Vernichtung von Juden, Bolschewisten  und anderen Feinden des Nazi-Reichs bleibe für ewige Zeiten ein Ruhmesblatt der SS, und die SS hatte es ihrem Reichsführer geglaubt. Sie war also offenbar im Besitz ihrer Würde geblieben. Allerdings redeten die SS-Leute nicht von Würde, sondern von Ehre. Anders die Bolschewiki. Sie hatten nicht nur Zar, Adel, Bürger und Bauer  in der Oktoberrevolution besiegt, sondern auch ihre Mitrevolutionäre, und sie setzten von Stund an alles daran, das Volk zu entmündigen. In den dreißiger Jahren lief Stalin zu patriotischer Form auf, und sein Großer Terror gab den Menschenrechten in der Sowjetunion den Rest. 1941 überfielen Hitler und seine Wehrmacht Stalins Reich, erklärten dessen Bewohner zu Untermenschen und töteten und versklavten sie nach Belieben. Als die Wehrmacht vor Moskau umkehren musste, übernahmen die Kommissare und Propagandisten des Machthabers im Kreml wieder die Regie. Sie verstanden sich auf Gehirnwäsche. Die Rotarmisten, die auf deutschen Boden stürmten, kannten nur noch zwei Gefühle – Hass und aufgestaute Geilheit. Sie waren auf Gewalt dressiert: In dieses Schema, so meine ich, lassen sich die Ereignisse fügen. Die Skizze entschuldigt kein Ver­brechen, aber sie erklärt einigermaßen, wie es zu Übergriffen der Sieger und zur Massenvergewaltigung der Frauen kommen konnte und – nach dem Gesetz von Tragödien – wohl sogar kommen musste.
Verehrter Ingo von Münch, die Frage, was Ihr Versuch ergibt, die Massenvergewaltigungen mit Juristenverstand noch einmal anzugehen, müssen Ihre Kollegen in der Fachschaft Völkerrecht beantworten.  Ausgeschöpft war die Schreckensgeschichte ganz gewiss nicht, und Ihre Argumente sind aller Ehren wert. Nur stehen der Beschäftigung mit dem Thema instinktive Abwehrreaktionen entgegen: Widerwille, Abscheu, Ekel.
Meinerseits habe ich damals vor den Tatsachen kapituliert, die Oberländers Historiker aufgetürmt hatten. Ich habe das Grauen nicht in den Griff bekommen, das Grauen hat mich geschafft, und ich beschloss, den Stoff nie wieder anzufassen. Diesem Vorsatz aus Notwehr bin ich treu geblieben, bis ich mich jetzt mit Ihrem Buch beschäftigt habe.
Mein Resumee:  Es gibt die Darstellungsdefizite, die Sie beklagen, und es gibt nach wie vor blödsinnige Ansichten. Sie arbeiten beides mit der gebotenen  Sachgerechtigkeit auf. Doch die alten Gefühle weckt schon das Bild auf dem Titel: Zwei Rotarmisten, Papyrossi im Mund, zerren an einer Frau, der eine hat die freie Hand am Hosenschlitz... Womit ich beim Ares-Verlag angelangt bin. Dass Sie ihm leichtfertig Ihr Buch gegeben haben, haben Ihnen Kritiker schon vorgehalten, und unbedacht war es tatsächlich. Ares war ja nicht nur der griechische Gott des Krieges, sondern auch der „Inbegriff des blutigen Schlachtenmordes und des wütenden Kampfgetümmels“. (So der Kleine Pauly, Bd. 1, Sp. 526.) Anders gesagt: Ares ist der Gott der Kriegsverbrecher, und wer einen Verlag nach ihm benennt, muss sich dabei wohl etwas gedacht haben. Den Leuten in Graz, denen dies eingefallen ist, verstehen sich aufs Büchermachen; ihre Titel sorgen dennoch für Gänsehaut:  Sniper – Militärisches und polizeiliches Scharfschützenwis­sen kompakt. Oder: Panzer – Vom Ersten Weltkrieg bis heute. Das schmeckt nach Landserheft auf höherem Niveau. Oder auch: Carl Schmitt: Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, ein Werkverzeichnis des Staatsrechtlers Carl Schmitt, von dem der Verlag behauptet, er gelte „wegen seiner Kritik an den Verfassungsgrundlagen der Weimarer Republik bzw. wegen seines anfänglichen Engagements für den Nationalsozialismus in gewissen Kreisen (als) umstritten“.
Anfängliches Engagement?
Gewisse Kreise?
Mit diesen Floskeln will der Verlag offenkundig von vornherein klarstellen, dass Alain de Benoist, der Urheber der wissenschaftlichen Handreichung, strikt anderer Denkungsart sei. Lieber Ingo von Münch, die Lehre heißt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern...Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel.
Herzlich Ihr Jost Nolte


INGO VON MÜNCH ANTWORTET
Lieber Herr Nolte,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anmerkungen. Ich wäre froh, wenn durch sie eine Debatte über Frau, komm! beflügelt würde. Aber im Einzelnen:
1. Sehr eindrucksvoll ist die Schilderung Ihrer eigenen Erfahrung im Februar 1945. Eine solche Szene kann man in der Tat wohl nicht vergessen.
Ingo v. Münch
                Foto: Ares-Verlag.com
2. Ihre Skepsis hinsichtlich der Schilderungen in der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa – Sie schreiben sogar von einem Verdacht auf Manipulation, teile ich nicht. Was darin gesammelt ist, können Sie auch bei Kempowski, Kopelew und Solschenizyn finden. Die Tatsache, dass der damalige Bundesminister unseligen Angedenkens Theodor Oberländer der Auftraggeber war, liefert  genau so wenig einen Grund, die Arbeit der Wissenschaftler zu kritisieren, wie es sich geziemt hätte, einem Gutachter des Auswärtigen Amtes anzukreiden, dass dessen Außenminister Steinewerfer gewesen war – wenn er es dann gewesen sein sollte.
3. Die von Ihnen erwähnten, in jener Dokumentation nicht genannten Todesmär­sche von KZ-Häftlingen waren etwas ganz anderes – nämlich viel Schlimmeres als die Vertreibung; sie gehören deswegen meines Erachtens in eine Dokumentation der SS-Verbrechen, nicht aber in die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa.
4. Dass die Tragödie antiken Ausmaßes, welche die Massenvergewaltigungen  gewesen sind, „sogar so kommen musste“, sehe ich nicht. Die russischen Soldaten waren nicht – wie die Nazis behaupteten – Untermenschen; sie waren Menschen, und viele von ihnen hatten Frauen und Töchter. Stalin und die russische Generalität  hätten die Orgie der Gewalt stoppen können. Sie wollten es nicht.
5. Dass es in Rostock noch eine Ilja-Ehrenburg-Straßen gibt, benannt nach Stalins schärfstem Propagandisten, und dass die SPD und die Linkspartei eine Umbenennung verweigern, finde ich geradezu pervers. Dies unabhängig davon, ob das Flugblatt mit dem Text Brecht den Hochmut der germanischen Frauen! von Ehrenburg stammt oder, wie Ehrenburg behauptet hat, von Goebbels. Man nehme irgendein anderes Pamphlet aus der Feder Ehrenburgs und ersetze darin das Wort Deutsche – merke: nicht etwa Nazi oder deutsche Soldaten – durch Russen, und man sieht, wie mörderisch diese Flugblätter waren und von manischem Hass erfüllt.
6. Das Foto, das der Verlag auf den Titel meines Buches gesetzt hat, ist ein Foto,  und es bildet Realität ab. Soll dieses schon häufig veröffentlichte Zeitzeugnis versteckt werden? Revisionismus?
7. Ich habe zwanzig (!) deutschen Verlagen, darunter großen und hochangesehenen Häusern, geschrieben oder mit ihnen telefoniert und ihnen mein Buch angeboten. Ohne Erfolg. Die meisten haben das Manuskript abgelehnt, ohne es gelesen zu haben. Ich musste daraus schließen, dass schon das Thema nicht in die Zwangsjacke der herrschenden political correctness passte. Dann habe ich das Buch dem Ares-Verlag gegeben, der sich, wie Sie einräumen, aufs Büchermachen versteht und für dessen Programm ich im Übrigen nichts kann.
Lieber Her Nolte, wir zanken nicht, wir debattieren, und das gefällt mir.
Ihr Ingo von Münch


WIDERWORTE GEGEN WIDERWORTE
Lieber Herr von Münch,
natürlich sind mir Widerworte eingefallen. Zum Beispiel lassen sich die braunen Flecken von den Westen der hilfswilligen Historiker Schieder und Conze so wenig wegdiskutieren wie von den Sabberlätzchen verwandter Seelen im Dienst des Ministers Oberländer (siehe: Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, Beiheft 10 der Historischen Zeitschrift). Der Jurist Ingo von Münch entgegnet darauf: Restbestände völkischen Gedankenguts von Historikern in der Nachkriegszeit  hin oder her, die Dokumente, die sie gesammelt haben, sprechen eine eindeutige Sprache, und sie beweisen, dass es die grässlichen Ereignisse, von denen in ihnen die Rede ist, gegeben hat. Oder um mit Wittgenstein zu sprechen: Die Vergewaltigungen waren der Fall. Darum sind wir tausenden Frauen und Mädchen unser Mitleid schuldig.
Das ist vom ersten bis zur letzten Buchstaben richtig. Nur leider sagt es über das Befinden der Geschichtswissenschaft nach 1945 eine Menge, wer da das Wort geführt hat, und wir haben darauf zu achten, in welchem Fahrwasser wir uns bewegen, wobei ich auch nicht im Entferntesten daran denke, das eine auf Grund des anderen zu relativieren.
Und noch etwas: Sie raten mir, mich von Kempowski,  Kopelew und Solschenizyn überzeugen zu lassen, wer recht hat. Tatsächlich kenne ich mich bei diesen Autoren ganz gut aus, und ich bewundere die Wahrheitsliebe, deretwillen sie viel gewagt haben und die sie viel gekostet hat. Erwähnt habe ich sie nicht, weil mein Text andernfalls noch länger geraten wäre. Darum ist auch der springende Punkt außer Acht geblieben: Bewunderung entbindet nicht von der Pflicht zur Quellenkritik.
Mit seiner Quellenkritik konzentriert sich der Autor von Frau, komm! auf Ilja Ehrenburg. Der erschreckend bedenkenlose Propagandist der Gewalt hat sich ganz gewiss selber zuzuschreiben, wie er vor der Geschichte dasteht. Aber wiederum ein Nur: Auch Ehrenburg hatte Beweggründe, und er hat Anspruch darauf, dass sein jüdisches Schicksal wenigstens erwähnt wird. Es war jüdisch, obwohl er vom jüdischen Gott nichts wissen wollte.
Lieber Ingo von Münch, lassen wir es mit diesen Bemerkungen genug sein, und vertrauen wir darauf, dass die Debatte um sich greift, die Sie sich mit Recht wünschen.
Ihr Jost Nolte



Freitag, 24. September 2010

Hamburg spart

Max Brauers Grab in Altona             foto: jn-archiv

Das haben nun die Altonaer davon, dass Ole von Beusts Amtsmüdigkeit Hamburg einen Heidelberger als Ersten Bürgermeister beschert hat:  Zwar ist die Ehefrau des landfremden Christoph Ahlhaus Lizenzmarketingleiterin und müsste von Berufs wegen das Ohr am Mund des Volkes haben. Zudem sieht sie verblüffend hamburgisch aus. Sollte sie sich jedoch an der Elbe besser auskennen als der Gatte, muss sie ihm verschwiegen haben, dass ungestraft niemand den Leuten hinter der Großen Freiheit den Rest ihrer Identität raubt – den ihnen nach Hitlers Eingemeindung Altonas in Hamburg anno 1937 verbliebenen Rest von Selbstbewusstsein, den bis dato das Altonaer Museum beherbergt und der nun den über die Hansestadt hereingebrochenen Sparzwängen  geopfert werden soll.
Davon, dass die Arbeit am Milliardengrab der Elbphilharmonie eingestellt werden oder wenigstens vorübergehend ruhen soll, hören wir hingegen nichts. Da liegt die Vermutung nahe, dass sich Ahlhaus sub specie aeternitatis etwas Abglanz vom Ruhmestempel sichern möchte, den sich sein Vorgänger so wagemutig errichten wollte. Max Brauer aber, Vorvorgänger von Beust und Ahlhaus, als letzter preußischer Oberbürgermeister von Altona 1933 von den Nazis aus dem Amt gejagt und 1945 zum ersten Nachkriegs-Präsidenten des Hamburger Senats bestellt, muss sich im Grabe umdrehen.  Brauer nämlich ließ sich nicht etwa auf Hamburg berühmtem Totenacker in Ohlsdorf die letzte Ruhestätte bereiten, sondern auf dem Altonaer Hauptfriedhof.
Der Rest des Hamburger Sparprogramms? Das Deutsche Schauspielhaus soll 1,2 Millionen Euro oder die Hälfte seines künstlerischern Etats sparen und der größten deutschen Bühne ist deswegen der Intendant abhanden gekommen?  Na wenn schon! Der verschwundene Herr Schirmer hat ohnehin mehr und mehr darauf verzichtet, sich ums Dramatische zu kümmern und stattdessen im Handbetrieb Spielvorlagen nach  eigenem Gusto zusammenschustern lassen, was den eigenen kreativen Ehrgeiz sowie den Bedarf auf Zubrot der Mitarbeiter befriedigt haben mag, aber dem Wohl von Kultur und Publikum nur begrenzt diente. Weit bedenklicher ist da, dass die Hamburgischen Bücherhallen auf fünf Millionen Euro verzichten oder sie selber einspielen sollen. Nach der Selbstentleibung des literarischen Theaters  nämlich waren die Stadtbibliotheken – neben dem Buchhandel und dem Literaturhaus mit seinen Gastauftritten von Literaten – die letzte Chance für Hanseaten herauszufinden, was Dichtung und Literatur eigentlich sein mögen, was ja seit Aischylos nicht die unwichtigste Aufgabe von Bühnen gewesen ist.
Ps.: Hamburg hat auch einen Kultursenator. Er heißt Reinhard Stuth, ist in der Hansestadt geboren, betätigt den Rotstift aber offenbar lieber im Verborgenen.
jn, 24. September 2010

Donnerstag, 23. September 2010

Feuer unterm Dach?

„Ich lebte in Deutschland, dem besten Land, das es gab, in Lichterfelde, dem besten Villenvorort seiner Hauptstadt, im besten Haus mit dem schönsten Garten weit und breit… Wenn ich mir das abends vor dem Schlafengehen vorsagte, war ich zufrieden mit der Welt und dem lieben Gott sehr dankbar.“ So steht es in den 2004 postum erschienenen Heimlichen Erinnerungen Julius Poseners. Der Schüler des großen Architekten Hans Poelzig riss sich beizeiten von Deutschland los, emigrierte erst nach London und dann nach Palästina und meldete sich 1941 freiwillig zur Royal Army, um gegen Hitler zu kämpfen. Nach dem Krieg unterrichtete er in London und in Kuala Lumpur Architekturgeschichte. 1961 erhielt er einem Ruf der Berliner Hochschule für Bildende Künste und kehrte an die Spree zurück. Julius Poseners Sohn Alan Posener, 1949 in London geboren, wurde Publizist.
Die Überzeugungen von Posener jr., der für die WELT arbeitet, sind nicht jedermanns Sache, aber sie entspringen Erfahrungen, die ernstgenommen werden wollen, und er hat den Kopf, sie zu verfechten, was auch dann gilt, wenn der zuerst und zuletzt politisch argumentierende Zeitungsmann im Feuilleton seines Blattes als Theaterkritiker gastiert und ein gequälter Intendant Zeter und Mordio schreit. Wie Bühnenkunst aussehen müsste, die ihm gefallen könnte, weiß Posener jedenfalls, und sie ist offenbar das Gegenteil von allem, was ein Regisseur namens Luk Perceval im Hamburger Thalia-Theater aus Shakespeares Hamlet gemacht hat.
Perceval nämlich teilt Hamlets Text unter zwei Darstellern auf, stülpt ihnen alberne Kronen aus Pappe oder Blech auf die Köpfe und lässt sie für diese und jene Szene sogar in ein Kostüm zusammennähen. Damit, so Posener, unterstellt Perceval dem Publikum, es sei zu beschränkt, die Gespaltenheit Hamlets zu erkennen, über die der Dänenprinz bekanntlich fortwährend rede. Und: „Ist das Blödsinn, so hat er doch Methode. Dem Zuschauer soll sich an keinem Punkt des Dramas eigene Gedanken machen. Er käme sonst darauf, dass er bei Percevals Psycho-Familienseifenoper um den Inhalt des Stückes betrogen wird.“
Von diesen Anwürfen könnte sich der Thalia-Prinzipal Joachim Lux wohl im Mark getroffen fühlen, und einen Offenen Brief aus seiner Feder über Sinn und Verstand im gegenwärtigen Theater würden wir, um Verständnis bemüht, zur Kenntnis nehmen. Stattdessen aber hat Lux einen Brief an die Chefredaktion der WELT geschrieben und mit gleicher Post ans Publikum adressiert, in dem er einen angeblichen politischen Subtext des WELT-Kritikers aufspießt und Posener vorwirft, „den strafrechtlichen Tatbestand der Volksverhetzung und der Verunglimpfung anderer Religionen“ zu erfüllen.
Denn:  Posener habe in Wahrheit einen der beiden Bearbeiter im Visier gehabt, die dem Regisseur Perceval zu Willen gewesen sind und den Hamlet für die Thalia-Inszenierung filettiert und vorgekaut haben: den „türkischstämmigen“ Feridun Zaimoglu, einen Moslem, den der „durchgeknallte Kritiker“ – so die Quintessenz des Intendanten ­– als  Islamisten entlarven wolle. Außerdem habe Posener mittels eines rhetorischen Kunstgriffs dazu aufgerufen, dass Thalia-Theater abzufackeln.
Hier ein rachedurstiger Zeitungsmann vom Stamme Davids, dort ein braver Gefolgsmann des Propheten Mohamed in Treue zur Weltliteratur? Joachim Lux überschätzt peinlich den eigenen Scharfsinn und bleibt schlüssige Beweise schuldig. Er gaukelt uns vor, sein Bühnenboden sei der Gaza-Streifen,  und er fuchtelt selber mit der Brandfackel.
jn, 23. September 2010

Mittwoch, 15. September 2010

Noch ein Abgang

Der Theatermann Friedrich Schirmer hat den Bettel hingeworfen. Binnen zwei Wochen will er den Intendantensessel im Hamburger Schauspielhaus räumen. Der Grund: Der Senat enthält ihm nicht nur versprochenes Geld vor, er soll auch noch im verabschiedetem Etat Ausgaben von angeblich 300.000 Euro einsparen. Wie es heißt, freut sich Reinhard Stuthder eben ins Amt gelangte Kultursenator der Hansestadt, dass ihm Schirmer keine größeren Scherereien macht.
In den Archiven liegt irgendwo eine Glosse aus Vor-Google-Zeiten begraben, in welcher der Theaterkritiker jn vorschlägt, das Deutsche Schauspielhaus an der Hamburger Kirchenallee zu einer Badeanstalt umzubauen. Grund: ein  fehlendes Tummel- und Trainingsbecken für Freizeitsprotten und künftige Schwimmweltmeister sowie die Unbespielbarkeit der größten deutschen Sprechbühne. Der Vorschlag stand in der Zeitung, als von der inzwischen errichteten Schwimmhalle an der Sechslingspforte, zwei Steinwürfe vom Schauspielhaus entfernt, noch niemand sprach. Insofern war er nicht völlig blödsinnig. Dass nichts aus ihm wurde, wunderte den Glossenschreiber trotzdem nicht. Im Rückblick gibt er zu, dass Hamburg einige Theaterereignisse entgangen wären, wenn die Hanseaten auf ihn gehört hätten, zum Beispiel die Erfolge in der Ära des Intendanten Ivan Nagel oder in jener seines Kollegen Peter Zadek.
Unbespielbar ist das Schauspielhaus wegen der Dimensionen von Bühnenhaus und Zuschauerraum trotzdem. Dass es immer noch bespielt wird, gehört zu den Unbegreiflichkeiten des Bühnenbetriebs; dass die Kulturbehörde stets und ständig mit den Intendanten ums liebe Geld zankte, war eins der unausweichlichen Ärgernisse. Ob jetzt der Rücktritt des Prinzipals Friedrich Schirmer als aufrüttelnde Tat Früchte trägt oder in der allgemeinen Misere verhallt, hängt naturgemäß am Verstand der Obrigkeit.
Tatsächlich gibt es unter den gegenwärtigen Sparzwängen wohl nur drei Möglichkeiten. Entweder der Laden wird dichtgemacht, oder der Betrieb hinkt unter neuer Leitung weiter fürbass, oder die Kunst macht aus der Not eine Tugend. Den Zuschauerraum zu verkleinern, wäre keine große Sache. Man müsste nur die Plätze verschwinden lassen, von denen aus die Bühne ohnehin nicht zu sehen ist. Auf der Bühne aber könnte sich die Chance eröffnen, ehrliches Theater zu spielen. Ehrliches Theater - das wäre armes Theater nach dem Vorbild des Teatr Laboratorium des polnischen Regisseurs Jerzy Grotowski, der den Urgrund der Schauspielkunst, eine Kunst ohne Schminke, Kostüme und Kulissen, wieder beleben wollte – nur spielen sollten seine Schauspieler, und das selbstverständlich gut.
Etwas Ähnliches hat es übrigens in den frühen fünfziger Jahren in Hamburg und anderenorts schon gegeben. Damals inszenierte der Theaterneuerer Heinrich Koch Stücke von Ibsen, Claudel,  Calderon und Shakespeare auf seiner Koch-Platte, einer kreisrunden Scheibe ohne jede Dekoration. Es war gewöhnungsbedürftig, aber wer sich daran gewöhnt hatte, fand es spannender als den gewohnten Aufwand.
jn, 16.08.10

Donnerstag, 9. September 2010

Pressefreiheit

Es gibt kein Wort, das den Auftritt besser trifft, als Chuzpe (jiddisch: חוצפה, hebräisch: חצפה). Frechheit, Dreistigkeit, Unverschämtheit – alles schön und gut, den durchtriebenen Charme, der jedem Gesprächspartner die Antwort vermasselt, bevor er sie über die Lippen bringt, haben sie nun einmal nicht. Den hat nur Chuzpe, was nicht heißt, dass die so bezeichnete Fähigkeit ein jüdisches Gen zwingend voraussetzt und nicht auch eine in Hamburg geborene und im märkischen Templin aufgewachsene evangelische Pfarrerstochter sie vorzüglich beherrschen kann. Beweis: Angela Merkels Lob der Pressefreiheit gestern in Sanssouci. Zur Chuzpe wurde Merkels Laudatio auf den Karikaturisten Kurt Westergaard von Jyllands-Posten, auf den mit der Bombe in Mohammeds Turban, selbstredend nicht, weil sie die Pressefreiheit in den Himmel hob. Zur Chuzpe wurde die Rede, weil die Bundeskanzlerin eben noch kraft Amtes Thilo Sarrazin wegen gedanklicher Abweichung der Feme der politischen Klasse ausgeliefert hatte. Offensichtlich wollte sie die Kritik abwürgen, in die sie geraten war, und tatsächlich hat sie es geschafft. Sie hat sogar die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka dermaßen verwirrt, dass die Meisterin der Nachfrage das Nachfragen vergaß und es einem Moslem-Offiziellen durchgehen ließ, Thilo Sarrazin frank und frei als Rassisten zu beschimpfen. Vor allem aber wurde der Auftritt der Kanzlerin dadurch zur Chuzpe, dass er sich ausgerechnet im Schloss Sanssouci  ereignete – dort, wo der Alte Fritz und Voltaire im lustbetonten Geist der Aufklärung ihre Gedanken ausgetauscht hatten, bis der Philosoph dem königlichen Eifer in Sachen Gedankenfreiheit nicht mehr traute, er das Weite suchte und Friedrich ihm seine Büttel hinterherschickte – übrigens eine Einzelheit, die Bundespräsident Wulff nicht erwähnte, als er nach seinem Amtsantritt gestand, so einen wie Voltaire hätte er auch gern.

Mittwoch, 8. September 2010

Phänotypische Varianz

„Die genetisch bedingte Varianz (Vg) dividiert durch die phänotypische Varianz (Vph) ist der Erblichkeitskoeffizient. Da sich die phänotypische Varianz aus der genetisch und der umweltbedingten Varianz zusammensetzt, ist der Erblichkeitskoeffi­zient letzten Endes der Quotient aus der genetisch bedingten Varianz (Vg) dividiert durch die genetisch bedingte plus die umweltbedingte Varianz.“ So Manfred Velden zur Sarrazin-Debatte (In Sachen Intelligenz nicht auf Intuition bauen, FAZ vom 08.09.2010). – Verstanden?
Der Beitrag des Professors für Biologische Psychologie zum Thema Zahlen und Erblichkeit ist erhellend. Wir müssen uns das Referat nur in Gänze und in Ruhe zu Gemüt führen, wozu hiermit geraten wird. Im übrigen gilt weiterhin: Eugenik, auch Rassenhygiene genannt, ist des Teufels. Über die Bedeutung der Gene für die Entwicklung der Gesellschaft nachzudenken, ist trotzdem nicht nur erlaubt, sondern unerlässlich.
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Montag, 6. September 2010

Gene? Reflexe? – Versuch eines Raisonnements

Pawlows Hund im Versuch                Abb.: jn-Archiv
As en Kirl an de Sprütt, mit diesem Lob meinte meine Großmutter Feuerwehrleute, die ausrückten, um einen Brand zu löschen. Für Nicht-Plattdeutsche: Wie ein Mann an der Spritze... Betont: der unbestimmte Artikel ein. Ich höre noch heute den Lärm der lodernden Nacht und sehe die Helm- und Nackenschutzträger zu den roten Wagen mit den langen Leitern rennen. Dass unter Brandschützern auch Brandstifter sein können, lernte ich erst später. Doch bleiben wir enger am Anlass: Politiker unterschiedlicher Couleur reagieren einer wie der andere, wenn einer von ihnen aus der Reihe tanzt. Sie rotten sich gegen den Störenfried zusammen, und wenn ihnen genug einfällt, worüber sie sich empören können, setzen sie ihn vor die Tür. (Immerhin sind Praktiken wie Genickschüsse, Nächte der langen Messer, Schauprozesse und Transporte ins KZ und in den GULag weitgehend aus der Mode.) Die Vermutung, dass irgendwo ein Gen in den Politikern lauere, auf das sich ihr kollektives Verhalten zurückführen lasse, mag zwar naheliegen, empfiehlt sich aber nicht zum Vortrag in der Öffentlichkeit; wer von Genen redet, löst massenhafte Gegenwehr aus. Deswegen schlage ich einen Paradigmenwechsel vor: Sprechen wir künftig von bedingten Reflexen statt von Genen. Beim Blättern in der Wissenschaftsgeschichte ergeben sich allerdings auch dann störende Fragen.
Bechterew
           Abb.: jn-Archiv
Ein Reflex ist laut Lehrbuch eine durch den Willen nicht oder nur notdürftig zu beeinflussende unmittelbare Reaktion des Nervensystems auf einen Reiz. Das Lid zuckt, wenn ein Staubkorn ins Auge gerät, ein Säugling, der ein Schwindelgefühl spürt, klammert sich an die Mutterbrust, Bratenduft lässt das Wasser im Munde zusammenlaufen undsoweiter. Allgemeiner gesagt: Reflexe haben elementare Funktionen; womöglich retten sie uns immer wieder das Leben. Und: Auf unwillkürliche Reaktionen sind Mensch und Tier offensichtlich schon bei der Geburt programmiert. – Dieses Bild machte sich die Wissenschaft von den Nervenwegen, bis die russischen Neurologen Wladimir M. Bechterew (1857–1927) und Iwan P. Pawlow (1849–1936) in Experimenten mit Hunden sogenannte bedingte Reflexe nachwiesen. Bechterew brachte seinen Tieren mit einer einigermaßen simplen Versuchsanordnung bei, ohne Harndrang das Bein zu heben. Er traktierte sie mit Stromstößen und ließ gleichzeitig einen Summer ertönen. Nach einer Weile, verzichtete er auf die elektrischen Schläge und ließ es nur noch summen. Die Hunde hoben trotzdem das Bein, und der angestrebte Beweis galt als erbracht. Gene schienen nicht mehr im Spiel zu sein. Bei Pawlow tauchten sie jedoch wieder auf. Er setzte die Speicheldrüsen im Hundemaul in Tätigkeit, indem er beim Füttern eine Glocke anschlug, früher oder später die Nahrung zurückhielt und den Speichelfluss allein durch den Glockenklang auslöste. Die Hunde brauchten unterschiedlich lange, bis sie überzeugt waren, dass der Glockenschlag eine Mahlzeit ankündigte.  Es gab – der Schluss drängte sich auf – von Natur aus kluge, und es gab dumme Hunde.
Pawlow              Foto: jn-Archiv
Die Politik aber erteilte der Wissenschaft eine Abfuhr. Wladimir Bechterew starb an Gift, und erzählt wurde, Stalin selber habe befohlen, dem Forscher den Todestrank zu verabreichen, weil der den großen Jossif Wissarionowitsch, der eben von Lenin den Kreml geerbt hatte, durchschaut und bei ihm eine Paranoia diagnostiziert habe. Die Maßregeln, die Stalin gegen Iwan Pawlow ergriff, waren subtiler. Er gönnte dem Nobelpreisträger einen natürlichen Tod, berief aber Trofim D. Lyssenko zum obersten Genetiker der Sowjetunion, und dieser Bauernsohn aus der Ukraine hatte nichts Eiligeres zu tun hatte, als alle Genetik offiziell für Unsinn zu erklären und mit Versuchen zu beginnen, durch Kreuzung Roggen in Wunderweizen zu verwandeln. Die Folgen waren Hungersnöte, unter denen die Sowjetbürger bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts litten.
Wer wissen will, was passiert, wenn Politikern zu Leuten, die mit eigenem Kopf denken, nichts als Maßregeln einfallen, stößt in der Weltgeschichte des Wissens auf horrende Beispiele. Sie finden sich nicht erst anno 399 v.Chr. in Athen beim Justizmord, den angebliche Demokraten an dem Philosophen Sokrates begingen, und mit Stalins GULag haben sie kein Ende gefunden. Nicht alle Maßregeln sind – zugegeben – gleich grässlich, und ins große Wehret den Anfängen! müssen wir nicht jedes Mal ausbrechen. Wir könnten diese Parole getrost Klaus Wowereit überlassen, der erklärtermaßen schon vor Thilo Sarrazins ungeschriebenem nächstem Buch zittert, bevor er die 464 Seiten gelesen hat, über die er bei Anne Will redet. Wir könnten uns sogar mit bedauerndem Stirnrunzeln begnügen, wenn die Vizepräsidentin des Bundestages Katrin Göring-Eckardt – ebenfalls bei Will – Sarrazin nicht nur vorschreiben will, worüber er schweigen, sondern auch was er auf welcher Seite seines Buches sagen solle. Wenn aber Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière Arm in Arm mit den Spitzenkräften der Opposition Sigmar Gabriel und Claudia Roth die Stimme erheben und einen Autor zur Ordnung rufen und abstrafen wollen, als wäre dies selbstverständlich ihres Amtes, wird es ernst.
Es ist ernst, und dass Politiker wie Wolfgang Bosbach und Klaus von Dohnanyi dem Abweichler Sarrazin nicht an die Kehle wollen, ist ein schwacher Trost, solange es im Politbetrieb nicht mehr Köpfe wie sie gibt.
jn, 6. September 2010

Freitag, 3. September 2010

Keine Meinung über Sarrazin

Das knallrote Buch, das Thilo Sarazzin, vor jede auftauchende Kamera hält, habe ich nicht gelesen.* Wenn ich es gelesen hätte, hätte es mir auch nichts genützt, weil ich mich in der  Literatur, auf die der Verfasser sich beruft und die ihm seine Kritiker um die Ohren schlagen,  nicht auskenne; offenbar handelt es sich um zweierlei Literatur, über Statistik und über Gene. Also begnüge ich mich damit, das Schauspiel zu betrachten, dem ich nicht entgehen kann: Thilo Sarrazin (fast) allein gegen alle – wahlweise: Lauter Experten und ein Brandstifter. Die Experten an erster Stelle, denn anscheinend gibt es außer mir keinen, der kein Experte ist, und Vortritt wem Vortritt gebührt. Wer recht hat? Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur: Selbst wenn alles nichts anderes als haarsträubende Meinung wäre, was  Sarrazin zum Besten gibt, stünde es unter dem Schutz des Art. 5 GG. Und ob für Bundesbanker Ausnahmeregeln gelten, sähe ich gern vom Verfassungsgericht entschieden. Unterdessen macht es sich Sarrazins Partei, die SPD, wohl auch leichter, als sie die Sache nehmen sollte: Als Wertegemeinschaft (Andrea Nahles) macht sie in der offenen Gesellschaft eine unvorteilhafte Figur, und als eine Art Vatikan ist das Willy-Brandt-Haus ungeeignet.

*Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, DVA, München, 464 S., 22,99 €

Mittwoch, 1. September 2010

Vergnügen an Grass

Nach dem Erkundungsgalopp sattele ich die Rezensenten-Rosinante ab, führe sie zurück auf die Weide und gönne mir für dieses Mal das Vergnügen, das Gelände zu Fuß in Augenschein zu nehmen. Weniger blumig: Nach gut fünfzig von 358 Seiten beschließe ich, keine Rezension zu verfassen. Stattdessen stimme ich den Kollegen zu, die Günter Grass für Grimms Wörter – mir eine Nasenlänge voraus – schon die Honneurs dargebracht haben, blättere in dem wunderschönen Buch und genieße den hinreißenden Versuch des Verfassers, der Sprache auf die Schliche zu kommen.
Günter Gras: Grimms Wörter
Steidl, Göttingen, 365 S., 29,80 €
Aus zufälligem Anlass als Kostprobe der Arbeitsweise der Brüder Grimm ein Bruchstück ihrer Auskunft über Galopp, galoppen, galoppieren im vierten Band ihres Deutschen Wörterbuchs: 1,a)  nhd. seit dem 17. jahrh. verzeichnet (nl. schon am ende des 16.: galoppe, waloppe, gradarius cursus, rotundus cursus (...), aber nach dem galopieren aus dem 16. jahrh. gewiss älter: galopp, galoppo (...) teutsch-it. wb. 1678 499a; einen galop reiten, exultanter equitare. (...), auch im 18. länger noch ganz franz. galop, den galop gehen (vom pferde), in galop bringen (...), in vollem galop (...) Als Beispiel für die eigentliche Bedeutung: und hurre hurre, hop, hop, hop! / gings fort in sausendem Galopp (...), als Exempel für ein übertragene Verwendung: „so rennet nun alles in vollem Galopp / und kürt sich im Saale sein Plätzchen.“
Die drei Punkte in Klammern stehen jeweils für Quellen, die heute kaum jemand zur Hand hat – mit Ausnahme vielleicht der beiden letzten; die nämlich sind das 1789 im ersten Band der Gedichte gedruckte und gelegentlich noch in Anthologien auftauchende  Spinnerlied Gottfried August Bürgers, des Autors der Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, sowie Goethes Hochzeitslied aus dem Jahre 1802.
Nur so viel also aus gut anderthalb Wörterbuchspalten zum – wie gesagt zufällig – herausgegriffenen und nicht sonderlich wichtigen Wort Galopp, ein Schnipsel aus anderthalb Spalten von imponierender Gelehrsamkeit, aus einer vergleichsweise knappen Auskunft, das aber hoffentlich den Umgang der Wörtersammler Jacob und Wilhelm Grimm mit den Wörtern hinreichend charakterisiert.
Mit Material dieses Zuschnitts spielt also Günter Grass, in herzlicher Zuneigung zu den Grimms, ihre große Leistung bewundernd und ihr das Seine abgewinnend. Er schildert, wie sie, Mitglieder der Göttinger Sieben, die politischen Bedrängnisse bestehen, die ihnen die Verfassungstreue einträgt, er erörtert die Familienverhältnisse, er bewundert ihren Fleiß und findet heraus, was Jacob von Wilhelm unterscheidet: „Zugleich musste gelesen und gesammelt werden. Schnell greibare und rar gewordene Bücher wurden gewälzt. Es galt, in Schottels und Adelungs überkommenen Wortsammlungen nachzuschlagen, auch wenn Jacob deren Bemühungen eher geringschätzte. Doch hatten die Brüder noch kein System gefunden. Planlos und wie auf gut Glück fraßen sie sich durch den Wörterbrei. Einige Lieferanten mussten, weil unzuverlässig, abgewiesen werden. Von arg war Ärger abzuleiten. Und auch noch das: Im fernen Göttingen schien Wilhelm von wechselnden Stimmungen eingetrübt zu sein – der ihm angeborene Trübsinn. Und Jacob lief Gefahr, sich zu verzetteln.“
Der Unterschied der Temperamente zwischen den Grimms und Grass ließe auf Unvereinbarkeit schließen, wenn nicht das Gegenteil bewiesen würde. Hier vor allem Grübelei, Wissenschaft, vom Kopf und vom Gemüt her betrieben, dort der unbändige Spieltrieb, aber sie passen zusammen. Dass Grass trotzdem Grass bleibt erstaunt am meisten. Selbst den SS-Mann und den SPD-Wahlkämpfer bringt er noch unter, und erstaunlicher Weise schlägt er die meisten Volten ohne die mindeste Peinlichkeit.  Erst als er noch einmal über den Studentenmörder in Polizeiuniform namens Kurras herfällt, reißen die Nähte. Der Kerl und seinesgleichen sind so widerlich, dass jede Aufregung verschwendet ist.
Ich wiederhole es: Die Liebeserklärung unter der Überschrift  Grimms Wörter ist ein hinreißendes Buch. Es ist lange her, dass ich Vergnügen dieser Art an einem frischen Druckwerk gefunden habe. Als anno 1959 die Blechtrommel erschien, ging es mir nicht anders. Vor einem halben Jahrhundert waren wir, Grass und ich, eben über dreißig, und nichts lag uns ferner als der Traum von abgeklärtem Dasein und besonnenem Urteil, also tat ich mein Teil, griff ich mit Lust ins Register und pries Oskar Matzerath. Enttäuschungen blieben nicht aus, Verstimmungen griffen Platz, Streit wurde unumgänglich. Zurückzunehmen habe ich kein kritisches Wort, und dass wir gegen Ende doch noch gelernt haben, moderate Töne anzuschlagen, wäre allein kein Grund, die Hand auszustrecken. Den Anlass liefern jetzt Grimms Wörter.