Samstag, 31. Juli 2010

Abgänge

Über ihren Ersten Bürgermeister Ole von Beust erzählen sich die Hamburger, dass er in seiner Amtszeit keinen Fuß in eine der Kultureinrichtungen der Hansestadt gesetzt habe. Das muss nicht stimmen,  und wenn es so war,  hatte er ja die zuständige Kollegin, die in jeder Premiere und zu jeder Eröffnung einer Ausstellung erschienen sein soll. Der Bürgermeister und die Kultursenatorin waren dank Arbeitsteilung eng verbunden. Das gilt auch für beider Abgang. Folgerichtig hat Ole von Beust im Epilog zum eigenen Rückrittstheater vom Amt verkündet, dass Karin von Welck ebenfalls ihren Sessel räumt. Das Bedauern der Betroffenen hielt und hält sich in Grenzen, aber sie waren und sind ratlos.
À propos die Theater. Sie waren schon immer Irrenanstalten, und die Opernhäuser waren die geschlossenen Abteilungen. Ihnen gerecht und mit ihnen fertig zu werden, war für Politiker noch nie ein Kinderspiel, zumal Kulturpolitik anders, als die Theaterleute unerschütterlich annehmen, nicht nur aus Theater besteht. Zum Beispiel besteht sie zusätzlich aus Bildender Kunst (Museen), Musik (Elbphilharmonie), Literatur (Literaturhaus, Bücherhallen) und Film (Filmförderung) sowie obendrein ­– was sich nach Fritz Pleitgens Massen-Picknick auf der Autobahn in der Kulturland­schaft an der Ruhr nun endgültig herumgesprochen haben dürfte – aus Alternativem (in Hamburg: die sogenannte Fabrik in Ottensen).
In der Freien und Hansestadt Hamburg ist diese Spielart der Politik wie überall auf der Welt Glückssache, aber sie ist erstaunlich oft gelungen. Verantwortlich waren  die unterschiedlichsten Senatoren. Als die nun der Stadt abhanden gekommene Präsidin der zuständigen Behörde anno 1947 geboren wurde, hieß der Amtsinhaber Ludwig Hartenfels. An ihn dürfte sich kaum noch jemand erinnern. Umso mehr Eindruck hat bei den Zeitgenossen Hans-Harder Biermann-Ratjen hinterlassen, der Hartensfels´ Vorgänger gewesen war und auch sein Nachfolger wurde. Biermann-Ratjen kam von der Elbchaussee, war von Haus aus Notar, sah auch so aus und setzte bleibende Maßstäbe in der Kunst, mit geringen Mitteln – über den Daumen 1 Prozent des Etats der Hansestadt – Gutes zu bewirken. Intendanten, Museumsdirektoren und die Chefs der Philharmoniker wie der Symphoniker, die er holte, waren Respektspersonen,  und ihre Hervorbringungen waren Stadtgespräch – es war eine schöne Zeit in der kaputten Stadt.
Und es wurde über lange Jahre nicht langweiliger. Der Senator, ob einer Partei verschworen oder parteilos, tat gut daran, sich an den Wahlspruch des Bernhard von Clairvaux zu halten. Dieser Christenmensch hatte die berühmte Bescheidenheit des aufgeklärten Preußenkönigs Friedrich II. vorweggenommen und gesagt:  Praesis ut prosis, non ut imperes, auf Deutsch: Sei der erste, um zu dienen, nicht um zu herrschen. Im übrigen kam es in der Kulturpolitik darauf an, jeweils den schlauesten Weg zu finden und den anderen Stadtoberen oder wahlweise Mäzenen so viel Geld wie möglich abzuschwatzen für eine Sache, der sie nicht über den Weg trauten. Und notfalls galt es, mit Anstand zu scheitern. Als beispielsweise der Schauspielhaus-Intendant Hans Lietzau Hamburg mit blankem Vertragsbruch  düpierte und sich nach Berlin absetzte, um an der Spree zu zeigen, was er an der Alster versprochen hatte, blieb dem Kultursenator – er hieß Reinhard Philipp – nichts übrig, als die Stadt seinerseits mit einem revolutionären Vorschlag zu verblüffen. Der Freidemokrat schlug vor, die Leitung der größten deutschen Bühne einem Kollektiv von Originalgenies aus der nächsten Generation der Theaterleute ausliefern. Daraus wurde dann nichts,  aber als statt der Hydra mit fünf Köpfen der Kritiker Ivan Nagel allein zum Hausherrn an der Kirchenallee erkoren wurde, waren nicht nur die Hamburger erleichtert, die zuvor gezittert hatten, und Nagels Regentschaft verlief erwartungsgemäß höchst respektabel.
Vergleichbares hat die bis dato letzte Kultursenatorin nicht zu bieten. Gewiss, trotz der kostenträchtigen  Baustelle Elb-Philharmonie und trotz irrwitzigen Einfällen wie jenen, aus Kostengründen die Galerie der Gegenwart zu schließen oder einträgliche Stücke aus den Magazinen der Kunsttempel zu verscherbeln – trotz diesen und anderen Fehlgriffen war Karin von Welck die einzige Namhafte in Ole von Beusts Kabinett der Namenlosen, aber je öfter ihr Name fiel, um so weniger Begeisterung löste er aus. 
Dass die Senatorin sich davongeschlichen hat, passt ins Bild. Das Schlimmste aber ist, dass Hamburg seine Kulturbehörde abermals feilbieten muss wie sauer Bier. Das war schon so, als  Ole von Beust zum ersten Mal auf Brautschau ging und sich lauter Körbe holte. Einen davon bekam er von Karin von Welck, die dann beim zweiten Kniefall ja sagte. Inzwischen ist die erste Hälfte der zweiten Beust´schen Amtszeit verstrichen. Der prospektive Nachfolger, wenn er denn gewählt wird, sucht einen Verwalter für zwei Jahre. Wer soll sich darauf einlassen?
 jn, 31. Juli 2010

Freitag, 30. Juli 2010

Dativs Unglück

Dank Ihrer Gebühren? Ich danke deiner, du dankst meiner, er dankt seiner? Entlang der Alpen? Wieso nicht an den Alpen entlang? Das eine ist öffentlich-rechtliche Werbung, das andere beschreibt im Wetterbericht, auch öffentlich-rechtlich, den Weg eines Tiefs. Doch beide Bemerkungen zielen hier ausdrücklich nicht auf eine Kritik an der Organisationsform und an der Finanzierung von Rundfunk- und Fernsehprogrammen, sondern sie sind Einspruch gegen ein Deutsch, wie es nicht nur Kollegen vor den Mikrophonen von ARD und ZDF daherreden. Die Behauptung des Zwiebelfisch-Autors Bastian Sick, der Dativ sei dem Genetiv sein Tod (vor Jahren im Spiegel, dann als Titel eines Bestsellers), war von Anfang an blanker Unsinn. Was dahinstarb und dahinstirbt, war und ist der Dativ. Sein Ableben hat längst eingesetzt, nämlich spätestens, seit sich die Sprachnutzer angewöhnt haben, das Verhältniswort trotz mit dem Wes-Fall zu verwenden, obwohl sie am Bindewort trotzdem festgehalten haben. Was, um Himmels willen, haben die Leute gegen den Wem-Fall? Auch ein kritischer Kopf wie der Darmstädter Professor für Germanistische Sprachwissenschaft Rudolf Hoberg (Goethe wäre froh über unseren Wortschatz, FAS, 25.07.2010, S.29) tippt das Unglück des Dativs nur an. Dabei wäre eine Kampagne zu seiner Rettung dringend geboten. Er regt dazu an, Verben zu verwenden, und bringt im Verein mit ihnen Atem in die Sprache – im Gegensatz zum Genetiv,  der Substantive zusammenkittet und die Sprache erstickt.
jn, 30. Juli 2010

Mittwoch, 28. Juli 2010

Hyperreflexion

Friederike Reents über die Heidelberger Antrittsvorlesung zur Karl-Jaspers-Professur von Thomas Fuchs, FAZ vom 28. J07. 2010, S. N4 (Geisteswissenschaften):
 „Zu den medizinisch klassifizierten Fällen des übermäßigen Denkens gehören, wie zu erfahren war, die Zwangsneurose ebenso wie Hypochondrie und Schizophrenie. Das Gehirn fungiert bei den Erkrankten nicht mehr als Vermittlungsorgan, sondern als Hemmnis. Wenn wir bei einer Störung des Lebensvollzugs, wie etwa einer schlimmen Erfahrung, mit übersteigertem reflexivem Bewusstsein versuchen, der Situation zu begegnen, führt das schnell in eine Sackgasse. Die Reflexion verselbständigt sich; statt Probleme zu lösen, werden Probleme gewälzt, die Bewältigung wird überlagert von unendlichen Denkschlaufen, die dank wachsender Selbstbefassung bis zur Selbstentfremdung und im Extremfall zur Persönlichkeitsspaltung führen.“
Und wie steht es um die Folgen unterentwickelten Denkens? Wahrscheinlich ist die Frage überflüssig. Es genügt wohl, die Komsequenzen tagtäglich vor Augen zu haben.
jn, 28. Juli 2010

Dienstag, 27. Juli 2010

Selbstbildnis

       
                            Stock am Bett
                   für den Fall von
                              Krämpfen

ersatz
teil
lager

gift
müll
halde

reste
abfuhr

aber auch dies:
ja, das möchte ich
noch erleben
(fontane)

jn, 27. Juli 201

Papst

Was  soll der Papst
denn machen?
fragt die alte Freundin
in der Debatte über
Kindesmissbrauch...

Übrigens:
Was für ein Wort –
Kindesmissbrauch.
Wie braucht
(oder benutzt)
man Kinder?

jn, 27. Juli 2010

Sonntag, 25. Juli 2010

Kleßmanns Goethe

Der Titel kommt ironisch daher:  Goethe und seine lieben Deutschen. Der Untertitel prä­zisiert, worum es geht, nämlich um Ansichten einer schwierigen Beziehung. Eckart Kleßmann, bekannt für genaue historische Auskünfte und dezidierte Urteile über die Mitwirkenden an der Geschichte, sieht nicht zum ersten Mal im Franzosen-Kaiser Napo­leon I. den alle anderen Herrscher überragenden Ausnahme-Politiker seiner Tage und im Preußenkönig Friedrich II., der  bekanntlich auch seine Meriten um die Freiheit und den Fortschritt der Menschheit hatte, nur einen sogenannten Großen. Für Friedrichs stock­steifen Großneffen und zweiten Nachfolger Friedrich-Wilhelm III. und seine verhängnis­voll untüchtige Poli­tik, mit denen Goethe es vor allem zu tun bekam, bleibt da natur­gemäß nur die blanke Verachtung. Der Dichter, den die Preußen-Könige abkanzelten, dem aber Napoleons Wohlwollen leuchtete und dem das erhebende Glück zuteil wurde, mit dem Kai­ser disku­tieren zu dürfen,  dachte ganz ähnlich wie Kleßmann. Der in der Wolle gefärbte, wenn auch durch sein Genie und die Gnade seines Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eise­nach begünstigte Untertan hätte er es jedoch nie und nimmer so deutlich gesagt. Carl August wiederum herrschte nur über rund 2600, noch dazu zerstüc­kelte  Quadratkilome­ter mit etwa 140.000 Bewohnern. Zwar erhob der Wiener Kongress  anno 1815 das Her­zogtum zum Großherzogtum und rundete es auf annähernd 4300 Quadratkilometer und schätzungsweise 217.000 Einwohner auf. Carl Augusts Einfluss auf die Weltpolitik und mit ihm die Wirkungsmöglichkeiten seines Ministers Goethe blieben indes bescheiden. Was die Akten über Goethe im Staatsdienst freigeben, ist folg­lich weniger der Blick auf den Gang der deutschen Geschichte, es ist vielmehr Hinweis auf die Charaktereigen­schaften eines Dichters, der in die Politik geriet.
Die angekündigte schwierige Beziehung wird im Plural verhandelt. Nicht nur zwischen dem Genie und seinen Landsleuten herrscht Unverständnis, es klaffen auch Abgründe zwischen der immer wieder überwältigenden  Qualität der Dichtung und den amtlichen Schriften eines Ministers im fürstlichen Zwergstaat. Wir müssen nicht gleich mit dem gröbsten Geschütz auffahren – mit dem Hinweis auf die Diskrepanz zwischen der Gret­chentragödie und dem gnadenlosen Gutachten, in dem Goethe anno 1783 für die Voll­streckung der Todesstrafe an der unglücklichen Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn plädierte, als der Herzog erwog, die unglückliche Frau ins Zuchthaus statt aufs Schafott zu schicken. Das Thema könnte  den Rahmen der Ansichten sprengen, und also hat Kleßmann verständlichen Grund, darauf zu verzichten. Um so lieber beschäftigt er sich mit die anrührenden Gefühle des Meisters für die im wahren Sinn des Wortes hergelaufenen Christiane Vulpius, an der Damen höheren Standes, Charlotte von Stein nicht anders als Charlotte von Schiller oder  Bettine von Arnim, ihre Bosheit ausließen, während Goethe die Liebe der jungen Frau unbeirrt genoss und sie heiratete, nachdem sie ihn im Haus am Frauenplan vor französischen Marodeuren gerettet hatte –  eine herzerwärmende Geschichte, die das Leben schrieb und die Eckart Kleßmann schon im Jahre 1992 so kenntnisreich und anschaulich nacherzählt hat, wie wir es von ihm gewohnt sind.
Mit anderen Menschen sprang der zu hohen Ehren gekommene Goethe anders um. Er zeigte alten Freunden, die auf seine  Hilfe hofften,  die kalte Schulter. Er lehnte die nachwachsenden Romantiker und die Jungdeutschen in barschem Ton ab, weil sie Kunst und Literatur anders verstanden als er. Er zog über Isaac Newton her, weil der Physiker die Farben nach beobachteter  Spektralanalyse mit der Brechung des Lichts erklärte, während er, Goethe, dank geistigem Auge überzeugt war, dass das ursprünglich weiße Licht unteilbar sei und sich durch Trübung einfärbe. In der Politik half er, den Naturfor­scher Lorenz Oken vom Jenaer Lehrstuhl zu jagen, weil der freisinnige Mann in seiner Zeitschrift Isis die Verfassung von Weimar kritisiert hatte. Dabei war  der Minister Carl Augusts überhaupt gegen Verfassungen, weil sie zu nichts anderem gut seien, als dafür, die Fürsten am Regieren zu hindern, und was die Pressefreiheit anging, so war er über­zeugt, dass nur nach ihr schrie, wer sie missbrauchen wollte. Er riet seinem Fürsten, dem Übermut der Studenten in der Universität Jena Zügel anzulegen, und er war dagegen, über in öffentlichen Angelegenheiten gemäß aller Leute Meinung, also nach dem Mehr­heitsprinzip, zu entscheiden.
Kurzum. Ein Demokrat war er wirklich nicht, und so gut wie jede Ordnung war ihm lieber als die schönste Unordnung. Denn ihm saß die Revolu­tion von 1789 in den Knochen.
Seine lieben Deutschen? Er mochte sie nicht, weil sie ihn nicht angemessen respektierten und seinen Anleitungen zur Pflege der Weltliteratur nicht folgen wollten. Gab es sie überhaupt? Oder gab es nicht lediglich die Preußen und die Österreicher und die Untertanen in Sach­sen-Weimar-Eisenach nebst anderer Kleinstaaterei anstelle einer Nation? Die aller­mei­sten Landsleute waren geringe Geister, die ihm übelnahmen, dass er noch nach der Völkerschlacht bei Leipzig, in der Napoleon in die Knie gegangen war,  das Kreuz der französischen Ehrenlegion am Frack trug. Im tiefen Herzensgrund war ihm nur sympa­thisch, wer ihn verehrte oder ihn gar liebte. Er selber sah die Dinge so: „Ich weiß recht gut, ich bin Vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich Alle sehr gern los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter.“
Eckart Kleßmann  registriert das fragwürdige Verhalten und die zweifelhaften Äußerun­gen des großen Mannes – und führt vor, wie es trotzdem gelingen kann, dem Genie Goethe gerecht zu werden. Wir haben ja zum Glück dessen Werk.                                                             jn, 25. Juli 2010


Eckart Kleßmann
Goethe und seine lieben Deutschen
Ansichten einer schwierigen Beziehung
Die Andere Bibliothek
Eichborn, Frankfurt/M 2010
312 S., 32 €

Kernfrage*

Müssen
wir das alles
wissen?
Wir sollten
wollen.
Es könnte
nützen.

jn, 25. Juli 2010

* nach der Lektüre der Morgenzeitung