Montag, 30. August 2010

Nicht zu lang

Beim Umgang mit der Literatur nennen wir die Kunst, einen Text so lange zu befragen, bis er einen akzeptablen Sinn freigibt, Auslegung oder Hermeneutik. Verdorbene (unvollständig oder fehlerhaft überlieferte) Texte dürfen wir interpolieren, nämlich nach eigenem Verständnis ergänzen oder zurechtrücken, sofern wir die gebotene Vorsicht walten lassen und die vorgenommene Änderung kennzeichnen.  Gegen diese Regel habe ich verstoßen. Erhalten hatte ich die Post über meine Randbemerkungen: „sind die nicht zu lang. aber ich bin ja auch schon älter.“ Weil der erste Satz, wie er da stand, unverständlich war, habe ich ihn, ohne lange nachzudenken, als Frage begriffen und den Punkt durch ein Fragezeichen ersetzt. Das war falsch. Der Verfasser der Mail wollte sagen: „Mir sind die nicht zu lang...“ Beweis: eine nach eingestandener Ratlosigkeit meinerseits nachgereichte Mail des Kollegen von gestern: „ja, verdammt, das MIR fiel unter den schreibtisch meinen. gruß...“ Die aparte Satzstellung beiseite, sehe ich mich plötzlich nicht mehr getadelt, sondern ansatzweise gelobt, was mir natürlich besser gefällt. Dummer Weise wird dadurch meine Randbemerkung Zu lang? von gestern zum reinen Kunstwerk, das heißt: Sie passt nicht mehr zum ursprünglich vermuteten Anlass. Ich lösche sie trotzdem nicht, weil sie auf die konfliktträchtige Kollision von Bild und Text in Magazinen weist.

Sonntag, 29. August 2010

Zu lang?

Leider darf ich keine Namen nennen. Der Gesprächspartner hat es sich verbeten, und der Mensch, nicht nur der Literat, hat ein Recht aufs eigene Wort. Also ohne Namen: Ein Kollege fragt, ob meine Randbemerkungen nicht durchweg zu lang seien. Meine boshafte Antwort: Über ihn, den Kollegen, der da frage, erzähle man sich im Gewerbe, dass er im Vollbesitz der Macht eines Chefredakteurs von Magazinen beim Verfassen von Editorials die Tinte nicht habe halten können und dass seine Begrüßungen an die  Adresse der Leser schließlich nur noch im Perlschrift, Höhe 1,88 Millimeter, gedruckt werden konnten. Empörte Entgegnung: Er, der Kollege, habe sich immer an die Vorgaben des Lay-outs gehalten. Versöhnliche Erwiderung: Damit seien wir wohl beim entscheidenden Unterschied. Der eine habe dies, der andere anderes gelernt. Erfahrungshintergrund: Der eine hat sich, wie er bekennt, willentlich und aus Überzeugung der Diktatur der Graphik unterworfen,  während sich der andere noch nach Jahrzehnten zugute hält, dass er wenigstens eine Zeit lang versucht hat, in einem Bilderblatt die Texte vor den Bildern zu retten. Wie gesagt, die Namen bleiben wunschgemäß aus dem Spiel...

Samstag, 28. August 2010

Preiswürdig

Der Kollege Michael Althen, Jahrgang 1962, im Oktober wird er gerade einmal achtundvierzig, philosophiert in der FAZ-Beilage Bilder und Zeiten von heute über seine Vergesslichkeit: „Meine Frau sagt: ´Hast du...?´  Nein, sie sagt: ´Hast du eigentlich?´ Das macht es aber nicht besser. Denn ich habe eigentlich nicht. Nicht immer nicht, aber immer öfter nicht. Ich verblöde nämlich...“ So geht es weiter. Der Gipfel: ein hinreißendes Selbstgespräch unter der Dusche. Man lese die Glosse am besten zweimal, um sie nicht zu vergessen. Darüber hinaus ist der Theodor-Wolff-Preis fällig, den Althen, wenn ich auf dem Laufenden bin, noch nicht hat.

Freitag, 27. August 2010

Die Kunst der Ausrede oder Schwamm drüber?

Der Althistoriker Christian Meier ist ein Gelehrter milder Denkungsart, er neigt zur Verehrung großer Einzelner, was seine Caesar-Biographie zeigt, und er stellt das Wohl des Gemeinwesens über die Ansprüche der Individuen, was seine Monographie über das klassische Athen verrät. Jetzt hat er sich bemerkenswerte Gedanken über Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns gemacht. Um Gutach­ter, die zum Vergessen raten, ist er nicht verlegen.
Daran führt kein Weg vorbei: Nirgendwo und nie in der Weltgeschichte der Kriege gab es mehr und grausamere Verbrechen als zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 von deutscher Hand. Zwar musste längst nicht mehr bewiesen werden, dass eine Unzahl von Untaten zwangsläufig in kollektive Unmoral mündet, aber Hitler setzte alles daran,  es der Welt ins Hirn zu hämmern. Nach den Regeln der alten Tragödie wäre den Deutschen kaum etwas anderes übrig geblieben, als ihrem Führer in den Tod zu folgen, nachdem er sich im Bunker der Reichskanz­lei erstens vergiftet und zweitens erschossen hatte. Stattdessen entwickelten sie die Kunst der Ausrede zur Höchst­form. Und tatsächlich: Konnte nicht so gut wie jeder sein Gewissen beruhigen und geltend machen, dass er selber weniger angerichtet hatte als die sogenannten Hauptkriegs­verbrecher? Schuld war nur individuell abzuwägen, was auch die von den Siegern bestellten Richter im Nürnberger Prozess gelten ließen, und so gruppierte man das Volk nach Schuld­anteilen. Untere Ränge kamen mit ein bisschen Berufsverbot davon.
Christian Meier                                                       Copyrigh: Isolde Ohlbaum
Christian Meier, zu Hause im alten Griechenland wie wenige, erörtert gründlich, wie es die Hellenen mit der Gerechtigkeit hielten: Sie erfanden das Wort mnesikakein, meinten damit: sich oder andere an Schlimmes erin­nern, zum Beispiel an die Ermor­dung von Kriegsgefangenen oder die Versklavung ihrer Frauen und Kinder, und sie entwickelten daraus einen Straftatbestand. Der Dichter Phrynichos handelte sich um die Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert vor Christus neben dem Verbot, sein Werk noch einmal aufzuführen, eine Geldstrafe von tausend Drachmen ein, weil er  das Publikum auf dem Theater mit dem Schicksal der Griechen­siedlung Milet an Küste Kleinasiens zu Tränen gerührt hatte, nachdem die Perser die Mauern der Polis geschleift hatten.
Maßnahmen zur Disziplinierung des Volkes konnten sich auch auf Verträge zweier Frieden schließender Staatswesen mit dem Zweck gegenseitiger Schonung gründen, wobei jedermann die beiderseits hinterhältige Absicht durchschaute, was aber nichts änderte, solange die vorgesehenen Strafen zu erwarten waren. Der Geschichtsschreiber Thukydides sagt darüber: „Eidliche Abmachungen zur Versöhnung, in der Not geleistet, galten für den Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wussten“ (Geschichte des Peloponnesischen Krieges 3,82,7). Christian Meier fügt hinzu: Bei nächster Gelegenheit seien die Verträge gebrochen worden, „wobei der, der als erster wieder Mut fasste, im Vorteil war.“
Und Meier verfolgt das Lob des Vergessens und Verschweigens zurück bis zu Homer und zu dessen Odyssee: Nachdem der Held Odysseus die Jünglinge niedergestreckt hat, die sich während seiner Abwesenheit an seine Frau herangemacht haben, verkündet Zeus mit olympischer Autorität: „Wir wollen ein Vergessen des Mordes an den Söhnen wie den Brüdern setzen (verkünden, anordnen, verfügen, befehlen), und sie sollen einander befreundet sein wie vorher, und es soll Reichtum und Friede in Fülle sein.“ Was – wie Christian Meier hinzufügt – jemand natürlich leicht sagen kann, wenn er der oberste der Götter ist.
Doch aller Fragwürdigkeit  der Wohltat des Vergessens trotzend, haben die besten Köpfe der Antike Zeus zugestimmt. Seneca der Redner, der Vater des berühmteren Philosophen gleichen Namens, hat ohne Umschweife den Grund genannt: Optima civilis belli defensio oblivio est - zu vergessen ist die sicherste Methode, den Bürgerkrieg zu vermeiden. Auch Cicero, der sich hervorragend darauf verstand, Taten und Untaten gegeneinander abzuwägen, war dieser Überzeugung – und Christian Meier überrascht uns, indem er zustimmt.
Zwar sieht er Hinderungsgründe: Greueltaten der Hauptübeltäter waren noch nie anders zu sühnen als durch härteste Strafen. Danach aber sollte die Vergangenheit ruhen, denn es galt, die Zukunft zu meistern. Und jedermann sah dies quer durch die Jahrhunderte nur zu gern geschehen, solange er Gefahr lief, bei einer Abrechnung den Kürzeren zu ziehen. Nur die Juden wollten sich unbedingt daran erinnern, was im Lande Kanaan die Amelekiter ihnen angetan hatten, als Moses sie zum verheißenen Land führte (Exodos 17,8-16). Von diesem dünnen Eis zieht Christian Meier allerdings den ausgestreckten Fuß rasch zurück; der Frage, auf die es ihm ankommt, nähert er sich erst gut fünfzig Seiten später entschlossenen Schritts: Verbot und verbietet sich nach den Verbrechen gegen die Menschheit im Zweiten Weltkrieg ein- für allemal der Gedanke, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um die Zukunft zu gewinnen? Oder darf gefragt werden, und zwar „mit allem Nachdruck“, ob bis in die späten fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, genauer: „bis 1958“, in der Bundesrepublik Deutschland die Wahrheit über die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen „wirklich zumutbar“ gewesen wäre?
Fragen darf bekanntlich jeder, und zwar stets und immer und nach allem. Erst recht darf ein Gelehrter vom Ruf Christian Meiers nachfragen. Er sollte es sogar tun. Nur muss er sich Gegenfragen gefallen lassen. 
Das Gebot zu vergessen...
Siedler, München, 159 S., 14,95 €
Fragen wir also pars pro toto: Konrad Adenauer soll die Dinge  früh  auf den Punkt gebracht und verkündet haben, mit Hitlerjungen, die noch grün hinter den Ohren seien, könne er keinen Staat machen, was heißen sollte, dass ihm erwachsenes politisches Personal, das ohne Schrammen die Jahre des Unheils überstanden hatte, nicht zur Verfügung stand. Also stellte der erste Kanzler der Republik Leute wie den Ministerialdirigenten Hans Globke ein, und die Rechnung ging auf. Globkes Nachkriegs-Karriere lieferte das Muster. Der begabte Jurist hatte  am ersten Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen mitgeschrieben. Nun erwies er sich als „Stützpfeiler der Kanzlerdemokratie“, diente sich zum Staatssekretär hoch und harrte an der Seite seines Chefs aus, bis Konrad Adenauer zähneknirschend  das Palais Schaumburg zu Bonn am Rhein räumte. Inzwischen schrieb man das Jahr 1963. Wieso nennt Christian Meier also 1958 als das Jahr, in dem die Nation vom Vergessen aufs Erinnern umgestiegen sei?
Er weiß, was er sagt: In jenem Jahr 1958 verurteilte das Ulmer Schwurgericht im sogenannten Einsatzgruppenprozess zehn Angeklagte einer Polizeitruppe, die à la Globke nach Kriegsende ungerührt ins bürgerliche Leben zurückgekehrt waren, wegen gemeinschaftlichen Mordes in 4000 Fällen zu Gefängnisstrafen von drei bis zehn Jahren. Unsägliche Verbrechen der NS-Zeit waren längst auch vor deutschen Gerichten verhandelt worden, aber die Nation hatte den Kopf in den Sand gesteckt. Diesmal begriff sie auf wundersame Weise, wovon die Rede war, und die Erinnerungskultur unterminierte von Stund an und bald mit wachsendem Erfolg die Kultur des Vergessens – 1958 und nicht erst zehn Jahre später, wie dann die Achtundsechziger gern behaupteten.
Christian Meier hat also recht, und er stellt richtig. Ein fader Beigeschmack schleicht sich trotzdem auf die Zunge. Ihn bewirkt die milde Weisheit dieses Autors, sein verständnisvolles Eindringen in die Natur historischer Greuel und in die Gründe, sie zu vergessen. Bei Caesar und im alten Athen mochte diese Nachsicht hinzunehmen sein. Wer im selben Ton über die eigene Zeit redet, der riskiert, dass man ihn für einen Revisionisten hält.

Die um die 80


Briefe, so teilt Freund E. K. mit,
öffne er nur noch ungern –
in Sorge, ihm flattere schon wieder
Schwarzgerandetes entgegen.

Der Kollege L.L. hat seinen Abgang
verblüffend leise vollzogen:
Ihm sank beim Frühstück der Kopf
auf die Brust, und er war tot.

Wohin man auch blickt,
Tod und Demenz, sagt E. K.
Die Ehefrau L. soll gefasst über
den Tod am Morgen sprechen.

Alles eine Frage des Temperaments –
aber wer setzt sich noch 
in Ruhe zum Frühstück?
I.P.N. antwortet: Ich.

jn, 27. August 2010

Montag, 23. August 2010

Vom Segen der Punkte

Preisfrage: Welche Sätze der Kollegin Mechthild Küpper sind zu lang?
„Es wäre ein Treppenwitz der jüngeren Brandenburger Geschichte, wenn zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR ein ehemaliger Oberassistent am Lehrstuhl kapitalistische Staaten an der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg zum Oberbürgermeister der Landeshauptstadt gewählt würde. Nach der Bildung der rot-roten Landesregierung im Herbst 2009, als die Linkspartei peinlich berührt in ihren Reihen einen unentdeckten Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit nach dem anderen feststellte, sah es für Scharfenbergs Ambitionen schlecht aus, in Potsdam endlich auch offiziell zum Bestimmer zu werden. Denn er war nicht nur stellvertretender Parteisekretär an der Akademie für Staat und Recht, sondern bis 1985 auch als ´IM Hans-Jürgen´ tätig gewesen. Hatte er zunächst seine Stasi-Überprüfung verweigert, legte er sie - in allgemeiner Form - Mitte der neunziger Jahre selbst offen und behandelt sie inzwischen als olle Kamelle, die nur Kleingeister gegen ihn zu nutzen suchten.“ (Mechthild Küpper, Eine Frage des Tempos – Linke und SPD in Potsdam kämpfen an alten Fronten, Frankfurter Allgemeine, 23.08.2010, S. 4)
In der Geometrie ist der Punkt ein Objekt ohne jede Ausdehnung. Als Satzzeichen beendet er einen Aussagesatz. Als Wohltat sorgt er dafür, dass Gedanken nicht ausufern. Die Verwendung meines vorigen, mit  der Konjunktion dass eingeleiteten Objektsatzes war nicht beabsichtigt. Sie illustriert jedoch, dass es angebracht sein kann, Sätze mittels Nebensätzen zu verlängern. Sie lesen sich dann angenehmer.  Grundsätzlich gilt: Wer einen Aussagesatz ausdehnt, sollte wissen, warum er es tut. Der Kollegin Küpper ist anzuraten, häufiger einen Punkt zu setzen. 

Samstag, 21. August 2010

Lehrstück mit Handwerker

Sich über Monate hinziehender, nichtsdestoweniger einseitiger Briefwechsel mit dem Handwerksmeister S. in B.

Sehr geehrter Herr S.,
Sie haben gewonnen und werden sich in Fäustchen lachen, was mich, ehrlich gesagt, ärgert. Den Streit fortzuführen, hieße jedoch, mit ihm irgendwann vor dem Amtsgericht zu landen, das die Sache vermutlich – und zu Recht  – wegen Geringfügigkeit einstellen würde.  Statt mich darauf einzulassen, dokumentiere ich die Angelegenheit hier noch einmal.
Am 25. Mai dieses Jahres haben Sie mir diese Rechnung geschickt:

Der Brief traf am 28. Mai bei mir ein. Ich habe Sie noch am selben Tag angerufen und die Höhe der Rechnung beanstandet. Sie versprachen, sich meine Einwände durch den Kopf gehen zu lassen und zurückzurufen. Der Rückruf blieb aus, und ich schrieb Ihnen am 29. Mai:
Sehr geehrter Herr S.,
leider habe ich gestern vergeblich auf Ihren Anruf gewartet. Sie wollten sich bei mir melden, nachdem Sie Ihre Rechnung 100517 vom 26. Mai überprüft hatten. Um zu einer vernünftigen Vereinbarung zu kommen, melde ich mich nun schriftlich.
In Rechnung gestellt haben Sie für das Auswechseln einer Batterie im Funkgong an unserer Eingangstür 0,75 Stunden 30 Euro. Zuzüglich des Preises für eine Lithium-Batterie CR 2032 3V (3,00 €) und der Fahrzeugkosten nebst Kleinmaterial (5 €) plus 19 Mehrwertsteuer (7,22 €) ergeben sich  unter dem Strich 45,22 €.
Sie werden verstehen, dass ich den Betrag angesichts des Auftrags, eine Batterie auszuwechseln, für  überhöht halte und nunmehr nachdrücklich darum bitte, ihn auf eine angemessene Summe zu reduzieren.
Mit freundlichen Grüßen
Als darauf keine Antwort erfolgte, habe ich sie am 7. Juni angemahnt:
Sehr geehrter Herr S.,
am 29. Mai habe ich Ihnen den beifolgenden Brief geschickt. Leider haben Sie noch nicht reagiert. Für eine Antwort wäre ich dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Der Brief vom 29. Mai war beigefügt. Statt einer Antwort traf am 8. August diese 1. Mahnung ein, in der nicht nur eine Mahngebühr erhoben, sondern mir auch eine Rechtsbelehrung erteilt wurde:


Reagiert habe ich am 8. August mit diesem Brief:
Sehr geehrter Herr S.,
ich habe gar nichts übersehen. Vielmehr haben  Sie haben nicht auf die beiden Briefe reagiert, die ich Ihnen geschickt hatte, nachdem Sie mich am 6. Juni am Telefon abgewimmelt hatten (Faxe vom 29. Mai und vom  7. Juni). Dass Sie mir jetzt auch noch eine Mahngebühr in Rechnung stellen wollen, kommentiere ich besser nicht, ebenso wenig Ihren  Hinweis, dass Handwerker-Rechnungen gemäß neuem BGB-Recht sofort zahlbar seien. Die Bestimmung kann ja wohl nur gelten, wenn der Kunde keinen Protest einlegt.
Ich bedaure, dass wir uns in die Haare geraten, nachdem frühere Leistungen Ihrer Firma inklusive Rechnungen, reibungslos über die Bühne gegangen sind.
Mit besten Grüßen
Warten auf Post
Selbstbildnis jn
Weiter m Text von heute: Natürlich habe ich nun nicht mehr angenommen, dass ich eine Antwort erhalten würde. Gestern (am 20. August) hat dann meine Frau bei Ihnen eine Leuchtröhre gekauft und Ihnen bei dieser Gelegenheit um des lieben Friedens willen gut zugeredet. Sie haben, wie meine Frau berichtet, freundlich gelächelt, alle Argumente von der breiten Brust abgleiten lassen und zwei Behauptungen aufgestellt:
1. Die Kosten seien unter anderem deswegen entstanden, weil Sie nicht wissen konnten, welche Batterie benötigt wurde und Ihr Mitarbeiter eine doppelte An- und Abfahrt zurücklegen und berechnen musste
Das ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass ich Ihnen die benötigte Batterie am Telefon so genau wie möglich beschrieben hatte und dass Sie als Fachmann meine laienhaften Angaben entweder hätten kapieren oder dass Sie hätten nachfragen müssen, bis Sie die Auskünfte richtig einordnen konnten. Statt dessen haben Sie Ihren Mann mit einer falschen Batterie zu mir geschickt.
2. Der Gong, der eine neue Batterie brauchte, stamme „vom Baumarkt“, worin offenkundig die Überzeugung mitschwang, wir hätten das Gerät bei Ihnen kaufen sollen und wir hätten keinen Ärger bekommen.
Das ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass es sich um ein hochwertiges Gerät handelt und dass es nicht vom Baumarkt, sondern aus dem Fachhandel stammt. Dass Baumärkte es – im Gegensatz zu Ihnen – ebenfalls führen, ist nicht ausgeschlossen, mir aber nicht bekannt.
Meinerseits habe ich nur einen Irrtum einzuräumen. Am 8. August (siehe oben) habe ich Ihnen zugute gehalten, dass wir vor dieser Geschichte keinen Ärger miteinander gehabt haben. Das war falsch. Richtig ist vielmehr, dass ich Ihnen am 20. Juni 1999 diesen Brief geschrieben habe:
Lieber Herr S.,
seit gestern funktioniert die Telefonanlage, die Sie uns kürzlich eingebaut haben, gar nicht mehr oder völlig unzuverlässig.  Wir sind dadurch, wie Sie sich denken können, sowohl privat wie beruflich in erheblicher Verlegenheit und wären Ihnen dankbar, wenn Sie den Schaden so rasch wie möglich beheben ließen.
Wegen der Rechnung hat Sie, wie Sie sich erinnern werden, meine Frau neulich angerufen.  Auch in dieser Angelegenheit sollten wir uns jetzt verständigen.
Danke für Ihre Mühe und freundliche Grüße
Diesen Ärger vor sage und schreibe elf Jahren hatte ich glatt vergessen. Dabei war er, wie mir jetzt eingefallen ist, erheblich größer als diesmal. Einen Kommentar erspare ich Ihnen und mir und gehe zur Tagesordnung über. Das heißt: Ich überweise den Rechnungsbetrag vom 25. Mai – allerdings ohne Mahngebühr, die mir dann doch über die Hutschnur geht, und überlege ob ich unseren Briefwechsel, der mangels Antworten keiner war, ins Netz stelle. Sehen Sie dort doch spaßeshalber in den nächsten Tagen nach, ob ich mich zur Veröffentlichung entschlossen habe.
Gruß

Sonntag, 15. August 2010

Post vom Kollegen

Der Publizist Matthias Matussek (DER SPIEGEL) stellt eine Frage zu meiner Randbemerkung Reiten für Deutschland vom 13. August.

mm an jn, 13. August 2010 20:41:01 MESZ
Lieber Herr Nolte,
... was ist denn nun? Sollen wir in Afghanistan Krieg führen oder nicht?
Grüße Ihr mm

jn an mm, 14. August 2010 08:50:02 MESZ
...ob wir in Afghanistan Krieg führen sollen oder nicht, weiß ich auch nicht, und ich weiß ebenso wenig, wie man damit aufhört. Das ist natürlich dumm, aber so ist es.

mm an jn, 14. August 2010 12:58:29 MESZ
...das nun finde ich sehr erfrischend, ich weiß nämlich auch nicht, ob wir in Afghanistan sein sollen. Ich habe mich im SPIEGEL dafür ausgesprochen, weil die da den Frauen die Nasen abschneiden, aber man kann auch gegen den Einsatz sein, weil er wahrscheinlich sinnlos ist.

jn an mm, 14. August 2010 19:31:37 MESZ
...gerade wollte ich die Weisheit des Wachtmeister Hacker noch ein weiteres Mal rühmen.  Er hat uns damals in Pommern nämlich eingebleut: "Denkt dran! Wo ihr hinkommt, müsst ihr auch wieder weg, wenn´s dumm kommt, und dumm kommt es öfter!"  Bei Clausewitz, der lieber über Siege als über Niederlagen raisonniert, heißt es: "Der  bedrohte Rücken macht also die Niederlage zugleich wahrscheinlicher und entscheidender (Vom Kriege, IV,4). Das läuft wohl aufs Gleiche hinaus.

jn an mm, 15. August 2010 19:35:06 MESZ
bevor ich, wie verabredet, unsere Einsichten in Netz stelle, noch ein rasches Wort: Respekt vor dem Wachtmeister Hacker und seinesgleichen darf nicht zu der Annahme verleiten, das Volk hätte zwecks Vermeidung größten Übels nur Hitler, seine Partei und die Generalität zum Teufel jagen und das Schicksal der Nation in die Hände der Unteroffiziere legen müssen. In ihren Reihen gab es auch 1945 noch die Waurichs, mit denen Erich Kästner nach 14/18 abgerechnet hatte:

Er hat mich zum Spaß durch den Sand gehetzt
und hinterher lauernd gefragt:
“Wenn du nun meinen Revolver hätt’st -
brächst du mich um, gleich hier und gleich jetzt?”
Da hab’ ich ‘Ja’ gesagt!

Wer ihn gekannt hat, vergisst ihn nie.
Den legt man sich auf Eis!
Er war ein Tier. Und er spie und schrie.
Und Sergeant Waurich hieß das Vieh,
damit es jeder weiß...

Lieber Mathias Matussek, das sollte fürs Erste genügen ­– bis demnächst Ihr jn


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Freitag, 13. August 2010

Reiten für Deutschland

Wie der Zufall es will: Vorgestern taucht Kaisers Generalfeldmarschall August von Mackensen, der schon 1870/71 dabei gewesen war und 1944/45 noch immer, wenn auch nur ehrenhalber,  das Stolper  Reiterregiment 5 kommandierte, bei Phoenix auf, und heute steht in der Zeitung, dass der Bundesminister der Verteidigung Karl-Theodor zu Guttenberg nachgedacht habe und nunmehr die freiwillige Wehrpflicht einführen wolle.
Der Generalfeldmarschall
Den Preußen August von Mackensen, für Spötter unter den Zeitgenossen der leibhaftige Reichstafelaufsatz, also eine Büste auf der Konsole des Vaterlandes, kannte damals jeder aus der Wochenschau. Er war der edle Greis, der in der Uniform der Schwarzen Husaren an der Seite des geliebten Führers – der natürlich in Braun – am Heldengedenktag die Parade abnahm, und sein hervorstechendes Markenzeichen war die ausladende Mütze aus schwarzem  Fell, an der vorn ein überdimensionaler silberner Totenkopf prangte.  Noch im November 1944, im stolzen Alter von 95 Jahren, rief Mackensen mit erstaunlich kräftiger Stimme die deutsche Jugend zu „Opferbereitschaft und Fanatismus“ auf. Der Appell galt auch mir. Ich war siebzehn und hatte als Rekrut der dritten Stolper Schwadron gerade die Remonte zugeteilt bekommen, auf deren Rücken ich in den Krieg ziehen sollte. Ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen steckte auch an unserer Mütze Allerdings war sie feldgrau und erheblich kleiner als der schwarze Pudel des Chefs h.c., und das Abzeichen, das sie schmückte, war geradezu unscheinbar. Als der Befehl eintraf, gegen die Rote Armee auszurücken und Pommern zu verteidigen, riet uns unser Wachtmeister trotzdem, den traditionellen Schmuck lieber abzunehmen. Die Russen könnten uns andernfalls leicht mit der SS verwechseln, was unsere Überlebenschance erheblich verringere.
Der Wachtmeister hieß Hacker, war ein Bauer aus Mecklenburg, und seine Ordensschnalle war um einiges kürzer als die des Generalfeldmarschalls, konnte sich aber dennoch sehen lassen. Jedenfalls kannte Hacker sich mit dem Krieg aus, und er hat mir das Leben gerettet, als mich ein paar Wochen später ein russischer Scharfschütze erwischt hatte. Ob ich mich bei Hacker vor dem Abtransport ins Lazarett gebührend bedankt habe, weiß ich nicht. Später hatte ich schon darum keine Gelegenheit, ihm die Hand zu drücken, weil ich nicht wusste, wo er abgeblieben war. Ich weiß es immer noch nicht, aber dankbar bin ich dem Mann bis heute. Er war sichtlich gescheiter als der Generalfeåldmarschall von Mackensen.
Der Gedanke an den gespenstischen Preußen passt selbstverständlich nur bedingt zur Erfindung der freiwilligen Wehrpflicht im Hause des Herrn zu Guttenberg, aber Mackensen und verwandte Seelen fallen unsereinem zwanghaft ein, wenn von der Wehrkraft die Rede ist, und gegen die aufkeimende Depression hilft allenfalls der Gedanke an die Erfinder des Bürgers in Uniform, also an die Reformer unter den Militärs Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Ulrich de Maizière und Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin, deren Adelsprädikate ebenfalls ins Auge stachen. Ob ihr von oder zu mehr als Zufall war, sei dahingestellt. Jedenfalls haben die Herren Glück gehabt: Die Kasernen voller Soldaten und weit und breit kein Krieg. Jetzt hat Herr zu Guttenberg einen Krieg am Hals, aber er soll an den Soldaten sparen. Also muss er sich etwas einfallen lassen, und zwar je klüger desto besser. Wer auf Frieden hofft, dem bleibt nur übrig, dem Freiherrn die Daumen zu drücken.

Donnerstag, 5. August 2010

Kinderarmut - Ein Briefwechsel

Die Verfasser dieser Briefe kannten sich nicht, als der eine den anderen gestern (4. August 2010) telefonisch um die Rechte an dem Bild Kinderarmut in Deutschland bat, um es in sein Blog zu stellen. Er bekam die Zustimmung, stellte das Foto ins Netz und handelte insofern fahrlässig, als er die Sprengkraft des Fotos dessen geringer Auflösung wegen nicht hinreichend erkannte und vor allem die einkopierte Zeile "Arbeit macht frei", mit der die Nazi am Tor von Auschwitz und  anderen Todeslagern Schindluder getrieben hatten, nicht entziffern konnte. Als ihm der Geschäftspartner freundlicher Weise ein Foto mit höherer Auflösung schickte, war dem Autor auf der Stelle klar, dass er sich ein Kuckucksei eingehandelt hatte, das er schleunigst wieder loswerden musste.  Gründe und Gegengründe erörtert die hier dokumentierte Korrespondenz. (Flüchtigkeitsfehler wurden stillschweigend korrigiert.)
Streit um ein Bild: Kinderarmut in Deutschland?    Quelle: medienecho.net

P.P. an jn, 4. August 2010 11:13:23 MESZ
Hallo Herr Nolte,
vielen Dank für Ihr Interesse.
Ich habe soeben Ihren Eintrag bei Wikipedia gelesen - Kompliment - tolle Arbeit.
Viel Erfolg mit Ihrem Mac und Ihrem Blog.
Die besten Grüße aus Stuttgart,
Peter Palec
MEDIENECHO

jn an P.P., 4. August 2010 11:40:24 MESZ
Hallo Peter Palec,
danke für das Kompliment und vor allem für das Foto. Es steht schon im Netz. Leider konnte ich es nur in kleinem Format bringen; in der Vergrößerung war es unscharf.
Herzlich Jost Nolte
Ps.: Wenn Sie Lust haben sollten, im medienecho auf mein Weblog hinzuweisen, wäre ich natürlich geehrt und erfreut

P.P. an jn, 4. August 2010 11:58:34 MESZ
Hallo Herr Nolte,
hier das Bild in einer etwas höheren Auflösung.
Grüße aus Stuttgart, P.P.

jn an P.P., 4. August 2010 12:03:30 MESZ
Danke. Ich muss jetzt aus dem Haus, stelle aber nachher das größere Bild rein. – jn

jn an P.P., 4. August 2010 18:20:11 MESZ
Lieber Herr Palec,
auf dem kleinen Foto konnte ich nicht lesen, was unter dem schwarz-rot-goldenem Hartz IV stand. Es tut mir leid, aber Arbeit macht frei in diesem Kontext finde ich unerträglich. Ich habe das Bild darum wieder von meiner Seite genommen
Sorry für Ihre Mühe Jost Nolte

P.P. an jn, 4. August 2010 18:20:11 MESZ
Hallo Herr Nolte,
das kann ich gut verstehen. Ich finde es auch unerträglich, dass mit Hartz 4 wieder Enteignung und Zwangsarbeit in Deutschland eingeführt wurden. (Hier werden Artikel 14 Abs.3 und Artikel 12 des Grundgesetzes gebrochen).
Der Schoß ist immer noch fruchtbar, aus dem das kroch - - -unerträglich!
Grüße, P.P.

jn an P.P., 04.08.2010 um 19:18 MSEZ
Hallo Herr Palec,
Bertolt Brecht und seinen Arturo Ui in Ehren, aber das Stück stammt aus dem Jahre 1941, und das beste aus des Meisters Feder war es schon damals nicht.* Um Tacheles zu reden: Ich halte die Gleichsetzerei, wie Sie sie betreiben, nicht nur für grundfalsch, sondern auch für gefährlich, aber nach aller Erfahrung mit Gesinnungsfreunden von Ihnen, haben wir keine Chance, uns zu verständigen. Wir haben einander am Telefon falsch eingeschätzt, und das sollte es dann gewesen sein.
Alles Gute und tschüss Jost Nolte
* Die Zeile Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch sind die Schlussworte des Lehrstücks Arturo Ui 


P.P. an jn, 5. August 2010 09:33:28 MESZ
... genau so ist es.
Dennoch - gute Zeit und guten Weg, P.P.


jn an P.P., 05.08.2010 10:55 MESZ
Hallo P.P.,
nachdem wir und darauf geeinigt haben, dass wir uns nicht einigen können, hätte ich nicht übel Lust, das Bild doch noch in mein Weblog zu stellen - und zwar mitsamt unserem Briefwechsel Was halten Sie davon?
Die Briefe müssten natürlich wortgetreu erscheinen, so sehr es auch jucken könnte, sie nachzufeilen. Zum Beispiel erscheint mir mein Schlenker "Erfahrung mit Gesinnungsfreunden von Ihnen" unzulänglich zu sein. Besser wäre es gewesen, von "verschworenen Gesinnungsverfechtern wie Ihnen" zu sprechen.
Freundlichst jn

P.P. an jn, 5. August 2010 11:55:16 MESZ
Hallo Herr Nolte,
einverstanden, eine ganz ausgezeichnete Idee ;-)
Allerdings ist mir nicht ganz klar, was Sie immer mit "Gesinnungsfreunden" oder gar Gesinnungsverfechtern" meinen. Ich bin mir jetzt keiner speziellen Gesinnung bewusst – schon gar keiner vorgefertigten. Insofern habe ich auch keine Freunde mit denen ich eine Gesinnung teilen könnte. Auch habe ich mich mit niemandem - oder für/gegen etwas - verschworen.
Zum Verschworen sein und eine Gesinnung haben kommt jetzt auch noch das Fechten - also das ist etwas viel für jemanden, der sich als apolitisch begreift.
Viele Grüße P.P.

jn an P.P., 5. August 2010 19:33:13 MESZ
Lieber Herr Palec,
nun bin ich endgültig verwirrt. Gerade meinte ich, Sie identifiziert zu haben – Stirn neben den Stirnen von Oskar Lafontaine, Gregor Gysi und Klaus Ernst nach dem Vorbild von weiland MarxEngelsLeninStalin auf dem berühmten Plakat, mit dem heutzutage nur noch orthodoxe Leninisten hausieren gehen, und nun haben Sie gar keine Gesinnung und auch keine Freunde, mit denen Sie sich fürs gemeinsame Gedankengut ins Zeug legen könnten, und der Bescheid, den Sie mir erteilen, klingt als sollte ich Sie wegen Ihrer Einsamkeit nicht bedauern, sondern Ihnen zu ihr gratulieren.
Was mich angeht, ich bin einer jener Zeitgenossen, die lebenslang  SPD gewählt und so lange zur FDP hinübergeschielt haben, bis die Herren Genscher und Lambsdorff per Vorstandsbeschluss dem Linksliberalismus in ihren Reihen den Garaus gemacht haben. Politische Ansichten anderer ertrage ich demgemäß mit Fassung. Aber... – siehe: Arbeit macht frei. Polnische Dunkelmänner haben die bösartige Nazi-Parole vom Tor des Stammlagers von Auschwitz geklaut – Sie haben Sie sich zurechtgebogen und schlagen sie Leuten um die Ohren, die vor sozialpolitischen Fehlentwicklungen warnen.
Aber machen wir endgültig Schluss. Das Thema ufert aus.
Beste Grüße Jost Nolte

Der Traum, den Leninisten noch immer täumen


Dienstag, 3. August 2010

Arme Leute

Die Verfassungsrichter haben recht, die Bundesministerin für Arbeit Ursula von der Leyen hat recht, das arbeitsgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft hat recht. Haben auch die sozial- und familienpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion Markus Kurth und Katja Dörner recht? Sie haben gesagt, Frau von der Leyen unterstelle Hartz-IV-Empfängern, dass sie nicht imstande seien, „mit Bargeld umzugehen, und alle Bezüge auf der Parkbank versaufen“ (FAZ, 3. August, S.10). 
1931/32: Arbeitslose vor der Armen-Küche             foto: jn-Archiv
In der Politik auf Fairness zu pochen, war schon immer naiv. Aber welche Einsichten lassen sich der laufenden Auseinandersetzung wirklich abgewinnen? Halten wir uns an Karl Marx und Friedrich Engels sowie an Vera Möller. An Vera Möller deswegen, weil sie tatsächliche gesellschaftlichen Verhältnisse festgehalten hat, indem sie Geschichten sammelte und herausgab, die von der Hamburger Göre Klein-Erna handelten, während Marx und Engels den herrschenden Verhältnissen bekanntlich mit riskantem Gedankenflug beikommen wollten.
Zum Beispiel: Klein Ernas Lehrerin ringt sich dazu durch, Frau Puvogel, der Mutter ihrer Schülerin einen Brief zu schreiben. Er lautet:
Sehr geehrte Frau Puvogel,
bitte achten Sie doch darauf, dass Ihre Tochter sich regelmäßig wäscht. Sie riecht etwas streng.
Hochachtungsvoll
Agathe Meyer-Müller-Schulze, Lehrerin
Frau Puvogel antwortet postwendend:
Frau Lehrerin!
Das geht Ihnen gar nichts an. Sie sollen ihr nicht riechen, sie sollen ihr lernen.
Nicht hochachtungsvoll
Frau Puvogel
Angeschnitten ist hier in knappsten Zeilen nicht nur das Thema Hygiene, sondern auch die Bildungsfrage; damit ist das Döntje hochaktuell. Obendrein ist es bösartig und liebevoll zugleich, und so gewinnt es literarische Qualität. Natürlich dürfen kritische Köpfe es auch übelnehmen; wir fordern ja heißen Herzens die Bildungsrepublik.
Nur: Klein-Ernas gab es tatsächlich, und wer behauptet, dass sie etwas streng rochen, drückt den Sachverhalt nachsichtig aus. Schülerinnen und Schüler, die jemals neben einer Klein-Erna in der Bank gehockt haben, haben das Odeur bis ans Ende ihrer Tage auf Abruf gespeichert.

Der kulturgeschichtliche Hintergrund: Kernseife war selbst für Arbeitslose ein erschwingliches Körperpflegemittel, aber es war alles andere als angenehm, sich mit ihr zu waschen, und warmes Wasser kam längst nicht in allen Wohnungen aus der Wand. Manchmal fror es über Nacht in der Kanne ein. Ferner: Zwar gab es seit der Antike Deodorants, aber das Volk freundete sich erst mit ihnen an, nachdem eine Wohltäterin der Menschheit in den USA die Roll-on-Deos erfunden hatte. Bis diese Duftverbesserer weltweit eingeführt worden waren, roch die Menschheit allzu oft menschlich.
Auf anderer Ebene: Karl Marx, der selber stets zu wenig Geld in der Tasche aber eine feine Nase hatte, hat im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte vom Auswurf, Abfall und Abhub der Klassen und vom Lumpenproletariat gesprochen. Das klang, ganz wie die Klein-Erna-Witze, nach Geruchsbelästigung, und die üble Nachrede schien allenfalls verzeihlich zu sein, weil der Verfasser des Kommunistischen Manifests und des Kapitals Wichtigeres im Kopf hatte. Dass wir uns, weil die Sache dann schiefgegangen ist, anstelle von angestrebter Weltverbesserung mit der Bändigung der Absonderungen unserer Achsel-Drüsen begnügen sollten, wäre dennoch ein eklatanter Kurzschluss.
Das Prekariat von heute sei das Lumpen-Proletariat von gestern?
Fürs erste dies: Die proletarischen Mütter der Klein-Ernas kamen oft genug vor Sorgen ums tägliche Brot nicht in den Schlaf. Vor Suppenküchen standen Arbeitslose, halbverhungert und abgerissen, die Straße entlang Schlange. Dass mancher von ihnen für den Fall der Revolution, wenn schon nicht die Mauser, so doch den Schlagring in der Tasche hatte, war mit einiger Gewissheit zu vermuten. Wenn heute Hartz-IV-Empflängerinnen und Hartz-IV-Empfänger mit ihren Fürsprechern an der Seite lauthals beklagen, dass Kinder, die jenseits der Armutsgrenze leben, nicht mehr mit barer Münze, sondern mit Sachleistungen gefördert werden sollen, handelt es sich offenkundig um eine Armut, die mit der Not von 1932 nur mühsam zu vergleichen ist, wobei allen Betroffenem der Grund für die Maßnahme bekannt sein müsste. Schlicht und einfach: Es gibt Leute, die das Kindergeld nicht für die Bedürfnisse ihrer Kinder verwenden, sondern für ihre eigenen.
  
         2010: Kein Wochenmark – Kirchenleute helfen Bedürftigen       gustfoto.de












Ganz gewiss sind Arbeitslose nicht schon deswegen glücklich zu preisen, weil das Gemeinwesen sie anno 2010 besser versorgt als dazumal. Aber die Forderung, Zuwendungen nach Hartz-IV-Regelsätzen sollten nicht das Einkommen übersteigen, das sich jemand auf freien Markt erarbeiten könne, hat erkennbar eine tragfähige Moral: Wer statt des Versuchs, mit seiner Situation fertig zu werden, aufs Sofa flüchtet, in die Glotze starrt und sich Chips von Aldi oder Penny abfüllt, gibt sich nicht nur sich selber auf. Er bringt auch Mitbürger, die für seinen Lebensunterhalt aufkommen, früher oder später auf die Palme, woraufhin schier zwangsläufig irgendwann der Ruf nach Maßnahmen ertönt.
Doch niemand, der ernstgenommen werden will, soll die Hartz-IV-Situation kleinreden.  Wer um seine Existenz fürchtet, auf den passt, was Dante, den armen Seelen am Höllentor zuruft:
Hier musst du allen Zweifelmut ertöten,
Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin.
Karl Marx und Friedrich Engels haben Dantes Zeilen – einigermaßen überraschend – in ihrer Kritik der politischen Ökonomie zitiert. Es muss erlaubt sein, an sie zu erinnern. Wer seine Arbeit verliert und fürchten muss, für immer aus der  Bahn geworfen zu werden, sieht sich vor einem Höllentor stehen, und zu übermenschlichem Trotz ist logischer Weise kein Mensch verpflichtet. Bei Licht betrachtet aber ist der Trotz womöglich das einzige, womit sich die Krise ins Positive wenden lässt.
Nachsatz: Im eigenen Interesse soll die Gesellschaft Hartz-IV-Kinder für das gesellschaftliche Leben fit machen – vor allem durch Bildung. Dagegen ist nicht das Geringste zu einzuwenden. Nur darf sich das Fitness-Training nicht darin erschöpfen, den Kindern von morgens bis abend zu erzählen, dass Hartz IV auf ihre Stirn geschrieben steht. Armer Leute Kinder haben sich früher geschämt, wenn ihnen jemand unter die Schniefnase rieb, dass sie arm seien. Zu vermuten ist, dass es diese Verschämtheit immer noch gibt und dass sie wie damals die Malaise verschärft, in der leicht stecken bleibt, wer nur lernt, sich möglichst günstig beim Sozialamt zu bedienen.
jn, 4. August 2010