Beim Umgang mit der Literatur nennen wir die Kunst, einen Text so lange zu befragen, bis er einen akzeptablen Sinn freigibt, Auslegung oder Hermeneutik. Verdorbene (unvollständig oder fehlerhaft überlieferte) Texte dürfen wir interpolieren, nämlich nach eigenem Verständnis ergänzen oder zurechtrücken, sofern wir die gebotene Vorsicht walten lassen und die vorgenommene Änderung kennzeichnen. Gegen diese Regel habe ich verstoßen. Erhalten hatte ich die Post über meine Randbemerkungen: „sind die nicht zu lang. aber ich bin ja auch schon älter.“ Weil der erste Satz, wie er da stand, unverständlich war, habe ich ihn, ohne lange nachzudenken, als Frage begriffen und den Punkt durch ein Fragezeichen ersetzt. Das war falsch. Der Verfasser der Mail wollte sagen: „Mir sind die nicht zu lang...“ Beweis: eine nach eingestandener Ratlosigkeit meinerseits nachgereichte Mail des Kollegen von gestern: „ja, verdammt, das MIR fiel unter den schreibtisch meinen. gruß...“ Die aparte Satzstellung beiseite, sehe ich mich plötzlich nicht mehr getadelt, sondern ansatzweise gelobt, was mir natürlich besser gefällt. Dummer Weise wird dadurch meine Randbemerkung Zu lang? von gestern zum reinen Kunstwerk, das heißt: Sie passt nicht mehr zum ursprünglich vermuteten Anlass. Ich lösche sie trotzdem nicht, weil sie auf die konfliktträchtige Kollision von Bild und Text in Magazinen weist.
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