1931/32: Arbeitslose vor der Armen-Küche foto: jn-Archiv |
Zum Beispiel: Klein Ernas Lehrerin ringt sich dazu durch, Frau Puvogel, der Mutter ihrer Schülerin einen Brief zu schreiben. Er lautet:
Sehr geehrte Frau Puvogel,
bitte achten Sie doch darauf, dass Ihre Tochter sich regelmäßig wäscht. Sie riecht etwas streng.
Hochachtungsvoll
Agathe Meyer-Müller-Schulze, Lehrerin
Frau Puvogel antwortet postwendend:
Frau Lehrerin!
Das geht Ihnen gar nichts an. Sie sollen ihr nicht riechen, sie sollen ihr lernen.
Nicht hochachtungsvoll
Frau Puvogel
Angeschnitten ist hier in knappsten Zeilen nicht nur das Thema Hygiene, sondern auch die Bildungsfrage; damit ist das Döntje hochaktuell. Obendrein ist es bösartig und liebevoll zugleich, und so gewinnt es literarische Qualität. Natürlich dürfen kritische Köpfe es auch übelnehmen; wir fordern ja heißen Herzens die Bildungsrepublik.
Nur: Klein-Ernas gab es tatsächlich, und wer behauptet, dass sie etwas streng rochen, drückt den Sachverhalt nachsichtig aus. Schülerinnen und Schüler, die jemals neben einer Klein-Erna in der Bank gehockt haben, haben das Odeur bis ans Ende ihrer Tage auf Abruf gespeichert.
Der kulturgeschichtliche Hintergrund: Kernseife war selbst für Arbeitslose ein erschwingliches Körperpflegemittel, aber es war alles andere als angenehm, sich mit ihr zu waschen, und warmes Wasser kam längst nicht in allen Wohnungen aus der Wand. Manchmal fror es über Nacht in der Kanne ein. Ferner: Zwar gab es seit der Antike Deodorants, aber das Volk freundete sich erst mit ihnen an, nachdem eine Wohltäterin der Menschheit in den USA die Roll-on-Deos erfunden hatte. Bis diese Duftverbesserer weltweit eingeführt worden waren, roch die Menschheit allzu oft menschlich.
Auf anderer Ebene: Karl Marx, der selber stets zu wenig Geld in der Tasche aber eine feine Nase hatte, hat im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte vom Auswurf, Abfall und Abhub der Klassen und vom Lumpenproletariat gesprochen. Das klang, ganz wie die Klein-Erna-Witze, nach Geruchsbelästigung, und die üble Nachrede schien allenfalls verzeihlich zu sein, weil der Verfasser des Kommunistischen Manifests und des Kapitals Wichtigeres im Kopf hatte. Dass wir uns, weil die Sache dann schiefgegangen ist, anstelle von angestrebter Weltverbesserung mit der Bändigung der Absonderungen unserer Achsel-Drüsen begnügen sollten, wäre dennoch ein eklatanter Kurzschluss.
Das Prekariat von heute sei das Lumpen-Proletariat von gestern?
Fürs erste dies: Die proletarischen Mütter der Klein-Ernas kamen oft genug vor Sorgen ums tägliche Brot nicht in den Schlaf. Vor Suppenküchen standen Arbeitslose, halbverhungert und abgerissen, die Straße entlang Schlange. Dass mancher von ihnen für den Fall der Revolution, wenn schon nicht die Mauser, so doch den Schlagring in der Tasche hatte, war mit einiger Gewissheit zu vermuten. Wenn heute Hartz-IV-Empflängerinnen und Hartz-IV-Empfänger mit ihren Fürsprechern an der Seite lauthals beklagen, dass Kinder, die jenseits der Armutsgrenze leben, nicht mehr mit barer Münze, sondern mit Sachleistungen gefördert werden sollen, handelt es sich offenkundig um eine Armut, die mit der Not von 1932 nur mühsam zu vergleichen ist, wobei allen Betroffenem der Grund für die Maßnahme bekannt sein müsste. Schlicht und einfach: Es gibt Leute, die das Kindergeld nicht für die Bedürfnisse ihrer Kinder verwenden, sondern für ihre eigenen.
2010: Kein Wochenmark – Kirchenleute helfen Bedürftigen gustfoto.de |
Ganz gewiss sind Arbeitslose nicht schon deswegen glücklich zu preisen, weil das Gemeinwesen sie anno 2010 besser versorgt als dazumal. Aber die Forderung, Zuwendungen nach Hartz-IV-Regelsätzen sollten nicht das Einkommen übersteigen, das sich jemand auf freien Markt erarbeiten könne, hat erkennbar eine tragfähige Moral: Wer statt des Versuchs, mit seiner Situation fertig zu werden, aufs Sofa flüchtet, in die Glotze starrt und sich Chips von Aldi oder Penny abfüllt, gibt sich nicht nur sich selber auf. Er bringt auch Mitbürger, die für seinen Lebensunterhalt aufkommen, früher oder später auf die Palme, woraufhin schier zwangsläufig irgendwann der Ruf nach Maßnahmen ertönt.
Doch niemand, der ernstgenommen werden will, soll die Hartz-IV-Situation kleinreden. Wer um seine Existenz fürchtet, auf den passt, was Dante, den armen Seelen am Höllentor zuruft:
Hier musst du allen Zweifelmut ertöten,
Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin.
Karl Marx und Friedrich Engels haben Dantes Zeilen – einigermaßen überraschend – in ihrer Kritik der politischen Ökonomie zitiert. Es muss erlaubt sein, an sie zu erinnern. Wer seine Arbeit verliert und fürchten muss, für immer aus der Bahn geworfen zu werden, sieht sich vor einem Höllentor stehen, und zu übermenschlichem Trotz ist logischer Weise kein Mensch verpflichtet. Bei Licht betrachtet aber ist der Trotz womöglich das einzige, womit sich die Krise ins Positive wenden lässt.
Nachsatz: Im eigenen Interesse soll die Gesellschaft Hartz-IV-Kinder für das gesellschaftliche Leben fit machen – vor allem durch Bildung. Dagegen ist nicht das Geringste zu einzuwenden. Nur darf sich das Fitness-Training nicht darin erschöpfen, den Kindern von morgens bis abend zu erzählen, dass Hartz IV auf ihre Stirn geschrieben steht. Armer Leute Kinder haben sich früher geschämt, wenn ihnen jemand unter die Schniefnase rieb, dass sie arm seien. Zu vermuten ist, dass es diese Verschämtheit immer noch gibt und dass sie wie damals die Malaise verschärft, in der leicht stecken bleibt, wer nur lernt, sich möglichst günstig beim Sozialamt zu bedienen.
jn, 4. August 2010
jn, 4. August 2010
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