Montag, 4. Oktober 2010

Staatsmoral (I): Selber lesen

Gäbe es bei uns einen Preis für die wichtigste Moralpauke der Saison, wüssten wir längst, wer ausgezeichnet würde: Thilo Sarrazin für sein Buch Deutschland schafft sich selber ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Allerdings haben sich mindestens drei weitere Kandidaten zu Wort gemeldet: Peer Steinbrück mit Unterm Strich, Roland Koch mit Konservativ – Ohne Werte und Prinzipien ist kein Staat zu machen und die Richterin Kirsten Heisig, die mit ihrem eigenen Leben dann keine Geduld mehr hatte, mit dem Ende der Geduld. Der Preis könnte auf den Namen des Bußpredigers Savonarola getauft werden, den das Volk von Florenz erst in den Himmel hob und nachher hängte, um ihn anschließend zu verbrennen und seine Asche in den Arno zu werfen. Aus Gründen erträglicher Dosierung stehen unter den Kennmarken Staatsmoral II-IV  Steinbrück, Koch und Heisig demnächst auf dem Programm der Randbemerkungen; heute geht es um Sarrazins Deutschland schafft sich selber ab (DVA, München 2010 463 S., 22,99  €, siehe auch meine Einträge vom 3., 6. und 8. September)
Ein Vorspruch der nicht abschrecken, sondern lediglich warnen soll: Das Buch ist so sperrig wie sein Titel. Wie sich herumgesprochen hat, handelt es vom Intelligenzquotien­te­n der Nation.Thilo Sarrazin sieht ihn bedrohlich im Schwinden begriffen und führt ihn partiell auf die Zuwanderung fremder Völkerschaften zurück. Dabei frönt er hemmungslos seiner Vorliebe für Substantive und greift sich vom laufenden Band Zitate und Statistiken, um sie seinen Lesern um die Ohren zu schlagen. Die Pointe liefert jeweils die gemessene Durchschnittsintelligenz. Wer aber die angebotenen Daten persönlich nimmt, dem drängt sich der peinliche Eindruck auf, da behaupte jemand, der Nachwuchs unter dem eigenem Dach werde immer blöder. Daher die nicht enden wollende Aufregung landauf, landab. Gegen sie hilft dann nur die gefestigte Überzeugung, dass du und ich und alle anderen vom Mittelwert die Ausnahme sind, weil dieser Wert nun einmal auf kein Individuum oder nur zufällig auf dieses oder jenes deckungsgleich zutrifft. Als Hilfsargument sei empfohlen, dass sich offensichtlich alle Leute von allen Leuten und sogar eineiige Zwillinge voneinander unterscheiden, und das unabhängig vom Bildungsgrad, von der Zahl der Kinder und Enkel und vom Wohnsitz im Villenviertel oder im Ghetto. (Über Sarrazins Familienleben weiß ich nicht mehr, als dass er verheiratet ist und zwei Söhne hat; er sollte der Einfachheit halber zu Hause mit der von ihm gewünschten jährlichen Erhebung voneinander abweichender Intelligenzpunkte beginnen.)
DVA, 464 S, 29,99 €
Dreizehn Auflagen oder 1,1 Millionen verkaufte Exemplare innerhalb eines Monats verdankt Thilo Sarrazin also weder seinen Thesen, gegen die es Schlagkräftiges einzuwenden gibt, noch seinem Stil, der gewöhnungsbedürftig bleibt. Vielmehr ergibt sich der Erfolg, ob geplant oder nicht, aus einem probaten Mechanismus: Der Fuchs Sarrazin bricht in den Hühnerhof einer Gesellschaft ein, die sich aus diversen Gründen selber unheimlich geworden ist und das Schlimmste befürchtet. Wie dieser Autor auftritt und Widersachern die Stirn bietet, lässt sich vermuten, dass er das sagt, was in der Luft liegt, ob sein Publikum ihn nun richtig versteht oder nicht. Zum  Beispiel sagt er, dass zuwandernde Völkerschaften Probleme einschleppen. Kommen die Migranten etwa nicht von Gott-weiß-wo her und stellen die seltsamsten Ansprüche? Im Beifall geht erwartungsgemäß unter, dass auch Sarrazin Bereitschaft zeigt, darüber zu reden, wie Türken, Araber, Afghanen und Russen ihre Ansprüche rechtfertigen können, wenn sie sich nicht länger auf pure Nächstenliebe verlassen wollen. Sarrazin sagt:  „Ein Konzept, das auf mehr Teilhabe- und Verwirklichungschancen setzt, muss nicht notwendig  als Forderung nach mehr Umverteilung interpretiert werden. Die beste Chancenvermehrung findet daher durch Aktivierung  jedes einzelnen Menschen und seiner Kräfte statt. Wer Amartya Sens Armutsbegriff umfassend interpretiert, müsste eine Armutsstrategie, die im Wesentlichen auf Umverteilung materieller Güter zielt, eigentlich als unzureichend – nämlich als nicht nachhaltig – empfinden.“ (S. 110)
Ein Aufruf zur Debatte, gar zur Verständigung?
Lediglich etwas aggressiv-verschwiemelt vorgetragen?
Es klingt ganz danach.
Wer zum Teufel aber ist Amartya Sen?
SAVONAROLA AUF DEM MARKT VON FERRARA   foto: jn-archiv
Zum Glück haben wir im restlichen deutschen Geistes- und Kulturleben einen Kollegen, der uns alles erklären kann. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat selber ein kluges Buch über ein angrenzendes Problem geschrieben: Das Methusalem-Komplott, in dem er die progressive Vergreisung der Gesellschaft  untersucht. Daher kennt sich Schirrmacher in der Literatur aus, auf die sich Sarrazin stützt, und er nutzt seine Kenntnisse weidlich beim Befragen des Gesprächspartners nach dessen Quellen. Das auf zwei Zeitungsseiten ausgebreitete Ergebnis ist geeignet, die absatzfördernde Unruhe wachzuhalten, wobei Sarrazin selber einräumt, dass er sich mit einem mulmigen Gefühl in dieses Interview begeben hat: Angesichts heftiger Angriffe richte ihn der Beifall des Publikums gewiss auch auf. Aber: „...die Intensität der positiven Emotionen beunruhigt mich auch etwas.“
Mehr nicht zum unangenehmen Applaus von verdächtiger Seite?
Nach einigen Zeitungsspalten des Dialogs über die Quellen versucht Frank Schirrmacher noch einmal, den Bußprediger zu stellen: „Sie schreiben, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe man über dysgenische und eugenische Prozesse nicht mehr gesprochen. Aber sie erwähnen nicht, warum das so war – schließlich war da etwas zwischen 1933 und 1945... Es muss doch einen Grund haben, dass Sie das nicht erwähnen? Und zwar gerade, wenn Sie von der wissenschaftlichen Evidenz überzeugt sind. Sie können doch auch von der Spaltung des Atoms nicht sprechen, ohne Hiroshima zu erwähnen?“
Wieder verharrt Sarrazin im Nebulösen und verschanzt sich hinter Zitaten. Wie es aussieht, will er partout nicht mit der Sprache heraus.
Ein Rassist?
Eher nicht; nur ein bisschen vernagelt.
Das Prinzip einer absatzfördernden permanenten Aufregung? Es wäre nicht unklug, die Debatte jetzt sich selber zu überlassen. Die Gemüter sind eingestimmt, der Widerspruch hat sich eingespielt, der deutsche Wortschatz hat bereits Zuwachs – von Sarrazinaden ist die Rede. Der Savonarola-Preis wäre zweifellos fällig. Widersprüche richten in diesem Stadium der Auseinandersetzung erfahrungsgemäß nur noch wenig aus. Und: Thilo Sarrazin sagt ja auch Richtiges, und dass er einer heilsamen Debatte Bahn gebrochen hat, wird sein Verdienst bleiben. Zu empfehlen bleibt nur noch, das Buch genau zu lesen – nicht nur die Kapitel 3, 6 und 8, sie allerdings mit besonderer Skepsis.
jn, 2. Oktober 2010

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