Freitag, 20. Mai 2011

Die Demjanujuks sind unter uns

Der Ukrainer John Demjanjuk wollte sein Leben vor den Deutschen retten und leistete zu diesem Zweck 1943 im Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen. Im Alter von 91 Jahren endlich angeklagt, spielt er vor dem Landgericht München den todgeweihten Deppen. Sein Anwalt zieht mit 519 Anträgen gegen die Strafkammer zu Felde zu und bezichtigt sie der Verletzung von Menschenrechten. Die Richter verurteilen den Angeklagten zu fünf Jahren Haft und schicken ihn mangels Fluchtgefahr bis zur erhofften Rechtskraft des Urteils nach Hause. Gegebenen Falles soll sein Gesundheitszustand  den Ausschlag geben, ob er tatsächlich hinter Gitter kommt.
Bahnstation Sobibor                                                   holocaustpicture.net
Mir fällt der Mai 1945 ein. Das Wetter ist schön – ein Jahrhundert-Mai. Er versöhnt selbst Leute halbwegs mit ihrem Schicksal, die von der Besatzungsmacht vor die Tür ihrer Bergedorfer Villen gesetzt worden sind, weil die Engländer es sich im vergleichsweise  einladenden Viertel selber bequem machen wollen. Immerhin, sagen sich die Eingeses-senen, der Krieg ist aus, und wer ihn überlebt hat, muss es zu schätzen wissen; es gilt abzuwarten, was kommt. Jedenfalls die normalen Besiegten sagen es sich.
In der Hansa-Schule an der Bismarck-Straße, 1949 umbenannt in Hermann-Distel-Straße, weht ein anderer Wind. Die höhere Lehranstalt ist 1914, zwei Wochen vor Beginn des ersten Weltkriegs, aus ihrem Gründungsquartier ein paar Straßen weiter in einen imponierenden Emil-Schumacher-Bau umgezogen. Nun, am Ende des zweiten Teils des deutschen Untergangs, ist er bis unters Dach mit Verwundeten der Wehrmacht belegt. Die Feldschere des Führers operieren noch. Die Patienten hinken an Krücken über den Schulhof, oder ihre Arme stecken in Gips. Anderen geht es besser, aber sie versuchen, ihren Aufenthalt möglichst auszudehnen. Die Alternative ist, als Prisoner of War hinter Stacheldraht auf einem Acker Segeberg zu vegetieren und nicht viel mehr zwischen die Zähne zu bekommen als Gras.
Die Vorstellung, dorthin zu geraten, ist alles andere als angenehm. Doch es gibt Leute, die größere Sorgen haben. Mancher von ihnen hat es eilig, die Tätowierung loszuwerden, die ihnen der Reichsführer SS Heinrich Himmler verpasst hat: die Blutgruppenbezeichnungen A, B, AB oder 0 (ohne Rhesusfaktor), Größe 1 x 1 cm, eingeritzt 20 Zentimeter über dem Ellenbogen auf der Innenseite des linken Arms, der – so die Statistik – Soldaten seltener weggeschossen wird als der rechte. Das Brandmal ist in erster Linie als Notfallhilfe für Verwundete gedacht, die eine Transfusion brauchen. Ein kurzer Blick unter den Arm genügt, und der richtige Tropf, sofern greifbar,  kann in Funktion treten. Die Nebenwirkung kommt Himmler vermutlich ebenfalls zupass. Seine SS-Männer kämpfen verbissener, wenn sie wissen, dass nicht nur deutsche Sanitäter, sondern auch sowjetische Kommissare die Zeichen unter dem Arm lesen können.
Demjanjuks Dienstausweis

johann-foto
Mitte Mai 1945 ist Himmler vorerst verschollen, und die Rote Armee ist nicht bis Bergedorf gekommen. Wie die Sieger im Westen auf Himmlers Tätowierung reagieren, ist jedoch nicht abzusehen, und darum floriert irgendwo im zweckentfremdeten Schulbau ein Eildienst für die Beseitigung verräterischer Tattoos: Komm her, Kamerad, wir lösen dein Problem, du hast schon anderes ausgehalten. Oder so ähnlich. Nach der  Entfernung von einem Quadratzentimeter Haut wird dem SS-Mann ein neues Krankenblatt  zugesteckt: Oberarmdurchschuss links. Anzunehmen ist, dass es, die deutschen Provinzen rauf und runter, während des ganzen Kriegs nicht so viele linke Oberarmdurchschüsse gegeben hat wie jetzt.
Beim Sonnenbaden im Garten neben der Turnhalle, in der in zweistöckigen Betten ebenfalls Verwundete untergebracht sind, gerät einer ins Plaudern. Er gibt mit Weibergeschichten an.  Ort der Handlung: das KZ Neuengamme. Ja, SS-Frauen hat es dort auch gegeben. Stramme Personen. Einige waren allerdings unangenehm aufdringlich, und eine der Kameradinnen hat er eines Nachts unverhofft in seinem Bett angetroffen. Sie war nicht sein Typ, und er hat es ihr gezeigt, indem er ihr mit dem gewünschten Erfolg einen Kübel kaltes Wasser über den nackten Balg gegossen hat. Zeternd ist sie abgezogen. Der Kamerad lachte schallend, wechselt plötzlich das Thema und wird ernst. In Neuengamme, sagt er, ist es hart zugegangen. Sehr hart. Aber damit hat er nichts zu tun gehabt. Er ist bei den bei den Wachmannschaften gewesen. In Feldgrau. Er hat nur seine Pflicht getan und gehorcht. Persönlich hat er niemanden und nichts auf dem Gewissen.
Ich höre zum ersten Mal einen Täter so reden. Der Befehlsnotstand und die Formel kommunikatives Beschweigen als Erklärung für die angebliche staatspolitische Notwendigkeit, NS-Täter ungeschoren zu lassen, sind noch nicht ausformuliert; in den Köpfen rumorten sie schon. Vom redseligen SS-Mann des Jahres 1945 im Garten der Bergedorfer Hansaschule unterscheidet den Angeklagten Demjanjuk im Jahre 2011 nur, dass er kein Deutscher war, sondern Hilfswilliger aus der Ukraine. Zur Einsicht bringt ihn der Richterspruch gewiss nicht mehr, und er macht nichts gut. Das Urteil des Münchner Landgerichts hätte gute Chancen im Wettbewerb um unverhältnismäßige Urteile in der Rechtsgeschichte.
Die Richter haben Demjanjuks Menschenrecht mit Füßen getreten, wie sein Anwalt behauptet? Nach Lage der Dinge mussten sie lavieren, wenn sie den Angeklagten nicht freisprechen wollten, und wäre unerträglich gewesen, ihn laufen zu lassen. Unerträglich waren das  Schmierentheater, das Demjanjuk in 93 Verhandlungstagen in München aufführte, und die Kraftmeierei seines Anwalts.

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