Sonntag, 1. Mai 2011

Hässliches Restrisiko

Fascinosum: Strommast von unten 
Windräder  in der Nordsee bis an den Horizont, auf schwäbischen Anhöhen und auf bayerischen Berggipfeln, dazwischen unzählige Überlandstromtrassen, die das Land zerschneiden,  alles bedeckende schwarzglänzende Sonnen- und Vakuum-röhrenkollektorenanlagen nebst öden Anbauflächen für Getreide, das als Regelbrennstoff gemäß der Anfang 2010 novellierten 1. Bundes-Immissionsschutz-verordnung (BImSchV) vorgesehen ist. Deutschland verheizt seine Schönheit, Hässlichkeit als Schicksal der Nation... Wer sagt, dass es so kommen muss? 
Das Ruhrgebiet ist schöner geworden, seit Zechen und Gruben geschlossen wurden. Allerdings stieg dort  die Arbeitslosenquote zeitweise um mehr als 300 - in Worten dreihundert Prozent an, und die vielgerühmte neue Schönheit des Landstrichs ist aufs neue bedroht. Windräder und Strommasten schießen auch hier aus dem Boden oder werden sich demnächst  gen Himmel recken. Schuld an dem Malheur sind nicht die die beteiligten Ingenieure. Dass ihnen die Ästhetik ihrer Produkte Hekuba ist und dass entsprechend aussieht, was sie in Wälder und Auen klotzen, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sie liefern, was bestellt ist. Der gegenwärtige Befund ist banal: Wie ehemals die Kühltürme und heute die Atommeiler haben Windräder ersichtlich Schönheitsmängel, es gibt nur viel mehr von ihnen. Umso mehr Andstoß erregen sie. während künstliche Staudämme faszinieren können, und der Anblick eines Strommastes von unten eher zufällig den Blick fesselt.
Windräder: Monstren in der Landschaft 
Auf Abhilfe können wir nur hoffen: Auch wenn sie nur noch Museumsstücke oder zweckent-fremdet sind, begeistern alte Mühlen bis heute. Gewiss können wir die neuen Windräder nicht einfach ins Historische umstylen, zur Anregung kreativer Köpfe unter den Designern könnten die Beispiele vergangenen Bauhandwerks dennoch taugen. Versuche wären jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos. Zwar neigt der Mensch dazu, sich an seinen Geschmack zu klammern, aber nicht nur die Geschichte der Mode lehrt, dass sich Sehgewohnheiten dennoch wandeln. Die Annahme, dass unweigerlich hässlich bleibe, was hässlich sei, ist zum Glück grundfalsch. 
À propos Spargel: Von ihnen zu reden, überließ kürzlich im ZDF Winfried Kretschmann dem Moderator Klaus Kleber, der ihm das Wort offenbar gern in den Mund gelegt hätte. Kretschmann, den Grüne und SPD in Stuttgart in der nächsten Woche zum Ministerpräsidenten wählen wollen, bekräftigte seine Pläne, Windparks dort anzulegen, wo in Baden-Württemberg der Wind weht, auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald. Der gelernte Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik zeigte jedoch, dass er hinreichend mit politischen Wassern gewaschen war. Er wusste, dass ihm Klebers Scherz um die Ohren fliegen konnte und bog ihn ab. Seine Geistesgegenwart wird er weiterhin benötigen, wenn seine Landsleute demnächst die Wanderstiefel schnüren, den Lemberg (1.015 m ü. NN) oder den Feldberg (1.414 m ü. NN) erklimmen und sich dort von Windrädern umzingelt sehen.
Mühle in Holland: Ihr eigenes Denkmal
Der Ernst der Angelegenheit drängt sich auf: Seit der Katastrophe im Hochtech-nologie-Land Japan sehen sich Fachleute auch bei uns zu dem Eingeständnis genötigt, dass sie nicht wissen, ob ein Kern in einem ihrer Atommeiler noch heute, erst morgen, vielleicht in 200 Jahren oder niemals schmelzen wird. Ihrer Weisheit letzter Schluss sind sogenannte probabilistische Sicherheitsanalysen, mit deren Hilfe sie Erfahrungen mit Störfällen so gewissenhaft wie möglich auswerten mögen, aber zu ihrem und unserem Leidwesen regelmäßig an Szenarien scheitern, „die zwar denkbar, aber in ihrer Wahrscheinlichkeit nicht quantifizierbar sind“.
Genau dies will die Vokabel Restrisiko sagen. Dummer Weise verführt sie stattdessen dazu, den Sachverhalt zu verharmlosen. Denn: Wir sind es gewohnt, Reste wegzuwerfen; darum überhören wir, dass in der Doppelvokabel ein unbekannter Rest das vermeintliche Risiko als das zeigt, was es ist – als grundsätzlich undurchschaubare Gefahr. Sie besteht darin, dass irgendwo auf der Welt zu einem Zeitpunkt, den keiner kennt, und aus Gründen, die niemand vorhersagen kann, ein Atomkern außer Kontrolle geraten kann. Es wäre die vierte Katatrophe nach Harrisburg (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), und ereignen kann sie sich in irgendeinem Winkel der Welt. Die einzige Vorbedingung ist, dass dort ein Atomreaktor steht. 
Winfried Kretschmann und andere besorgte Zeitgenossen haben recht, wenn sie behaupten, dass das Restrisiko niemandem zuzumuten ist, wo immer er lebt. Das Weitere fällt unter die Weisheit, dass die Lösung von Problemen den Homo sapiens regelmäßig in neue Probleme verstrickt. Dabei die Ästhetik in den Wind zu schlagen, wäre eine Dummheit. Klug wäre es hingegen, mit dem Wind zu spielen, um auf neue Gedanken zu kommen.
Windspiele am Strand von Warnemünde 
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