Am Freitag bekommt Claude Lanzmann den WELT-Literaturpreis aus dem Hause Springer. Für seinen neuneinhalb-Stunden-Film Shoah, in dem er die Wahrheit über den Völkermord der Nazis an den Juden wie kein anderer vor die Kamera geholt hat, hätte er auch noch im nächsten Jahrhundert jeden Preis verdient. Für seine Autobiographie mit dem seltsamen Titel Der patagonische Hase ebenfalls?
CLAUDE LANZMANN PASSIERT EIN BUCH Foto: Catherine Hélie, (c) Gallimard, Paris |
Ein meschuggenes Buch. Nicht dass Claude Lanzmann irre wäre. Er ist ein intelligenter Mann und hat eine Menge Interessantes zu erzählen. Aber er tobt sich in seinem Erinnerungen aus, und ihn plagt das Karl-May-Syndrom: Immer überall muss er der Klügste und Tüchtigste sein, ob er nun als Neunzehnjähriger in der Résistance gegen die deutschen Besatzer zum Schuss kommt oder auch nicht, oder ob er sich in Israel mit der Frage herumschlägt, ob er ein richtiger Jude sei oder doch nur ein irgendwie jüdischer Franzose. Die einzigen Mitmenschen, vor denen er lange respektvollst kapituliert, sind Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoirs, genannt Castor: Die Philosophin auf eigene geistige Rechnung an der Seite des Vordenkers des französischren Existentialismus hat in ihrem Werk Das andere Geschlecht behauptet, der Adam des Alten Testaments sei „nichts als ein roher Entwurf“ gewesen. Was den angehenden Journalisten Lanzmann angeht, kommt sie prompt zu anderen Schlüssen und teilt ihre Zuneigung zwischen Lanzmann und Sartre auf, während Lanzmanns Schwester Évelyne sich Sartre widmet. Der Ringelreihen entspricht Castors und Sartres Gewohnheiten; Lanzmann ist einverstanden, Évelyne auch. Was Lanzmann angeht, so lässt er sich nicht etwa notgedrungen darauf ein, sondern höchst lustvoll – fünf Jahre aufs Intensivste und in jeder Hinsicht, aber auch nachher noch voller Herzlichkeit. Den Schatten wirft Évelynes Schicksal auf das Spiel. Sie findet ihr Glück nicht und nimmt sich das Leben.
Das sind, persönlich genommen, die wichtigsten Namen aus den zehn Seiten des Personenregisters. Seiten. Lanzmanns Ehefrauen zum Beispiel, wie demonstrativ er sie auch er sie lobt, können da nicht mithalten. Lanzmann selber aber entpuppt sich als ruhmbesessener Hans Dampf in allen Gassen, in die er irgendwann und irgendwo einen Fuß setzt – derselbe Lanzmann, der Zeitzeugen bei den Dreharbeiten für Shoah mit unübertrefflicher Geduld zuhörte und sich keine Sekunde in den Vordergrund drängte.
Dass er Hasen liebt, muss wegen des Titels seiner Memoiren erwähnt werden. Der patagonische Hase stammt aus einem argentinischen Kinderbuch, das Lanzmann, wie er wissen lässt, auswendig kennt. In dieser Geschichte flüchtet ein Löffelohr vor einem Rudel wütender Hunde und fragt im Scherz seine Verfolger, sich zu ihnen zurückwendend, wohin es denn gehen solle. Den Hunden fehlt kongenialer Humor, und sie kläffen: „Bis ans Ende deines Lebens.“ In Lanzmanns Text taucht Meister Lampe – mehr eine Erscheinung als ein leibhaftiger Rammler – zuerst an einer Stelle auf, an der er partout nichts zu suchen hat und die ich trotz pflichtgemäßem Zurückblättern nicht wiedergefunden habe. Oder sollte ich sie geträumt haben? Auf Seite 326 riskiert Lanzmann dann sogar Simone Beauvoirs und sein eigenes Leben für Hasen. Sie springen ihm auf einer schauderhaften Straße in Jugoslawien vors Auto, er reißt halsbrecherisch am Steuer, um sie nicht zu überfahren. Drei Tiere sterben trotzdem. Castor und ihr Liebhaber sammeln sie auf und schenken sie den erstbesten Bauersleuten im nächsten Dorf. Außerdem erinnert Lanzmann daran, dass er selbst in Shoah seiner Liebe zu den Hasen gehuldigt habe: Während ein ehemaliger Birkenau-Häftling berichtet, wie ihm die Flucht aus dem Vernichtungslager gelungen ist, kriecht ein Hase unter Stacheldraht hindurch und flieht in die Freiheit.
Beispiele Lanzmannscher Erzählkunst im Zeichen des Hasen?
Der Journalist besteht, als Mitglied einer Delegation, grandios ein Liebesfiasko mit einer nordkoreanischen Krankenschwester und rettet die Schöne aus den Fängen von Genossen mit Schirmmützen, die ebenso wachsam wie bösartig sind. Zu seinem Leidwesen muss er sich, der Schirmmützen wegen, von seiner Kim Kum-sun trotzdem losreißen, und er findet sie nicht wieder, als er nach einem halben Jahrhundert nach Pjöngjang zurückkehrt. Um so heftiger verachtet er die örtlichen Stalinisten, denen es mittlerweile gelungen ist, das Land anscheinend endgültig in ein Zwangsarbeitslager für erstarrte Seelen zu verwandeln.
SARTRE UND BEAUVOIR – CITOYENS, NOCH GEPFLEGT GEKLEIDET Foto: jn-Archiv |
Oder der nun berühmte Spezialist für Interviews der Sonderklasse lauscht dem edelsten aller Visionäre zu Beginn der sechziger Jahre, Frantz Fanon. Als ihn Lanzmann in Tunis aufsucht, liegt Fanon in einem kahlen Zimmer auf blanker Matratze. Er hat Leukämie, und weder in Moskau noch in Washington wissen Ärzte ihm zu helfen. Auf seiner armseligen Liegestatt aber entfaltet er unwiderstehlich seinen Traum von einer besseren Welt. Lanzmann ist hingerissen, bringt Fanon und Sartre zusammen, und Sartre schreibt das Vorwort zu Fanons Bekenntnis- und Kampfschrift Die Verdammten dieser Erde. Lanzmann darf sagen, er habe sich um das Bündnis des Philosophen mit dem Kämpfer verdient gemacht.
Mit Fanons Witwe Josie spinnt sich sodann eine weniger erhebende Geschichte an. Als Lanzmann Josie Fanon wiedersieht, ist sie mit einem Funktionär des algerischen Geheimdienstes liiert, und der Kerl ist „eifersüchtig wie ein Tiger“. Josie ist der Terrorbrüderlichkeit (Sartre) der Volksbefreier ausgeliefert. Die halten Mohammeds Anregung, ein Mann solle sein Leben mit vier Frauen teilen, für ein zeitgemäßes Konzept der Bevölkerungspolitik, und ergreifen Besitz von allen Betten, auch von denen attraktiver Witwen. Lanzmann erstattet Simone de Beauvoir darüber Bericht, und die Leitwölfin der Frauenbefreiung erkennt empört Diskussionsbedarf mit den Freiheitskämpfern. Später wird Josie Fanon verlangen, dass eine neue Auflage der Verdammten ohne Sartres Vorwort erscheint. Das ist offenkundig das Resultat einer Gehirnwäsche. Der Verleger spielt nicht mit und nimmt das Buch lieber vom Markt. Lanzmann ist froh über die Entscheidung. Als er erfährt, dass Josie Selbstmord begangen hat, ist er erschüttert. Ihn belastet der Gedanke, der Suizid könne damit zu tun haben, dass Beauvoir in einem zur Unzeit veröffentlichten Brief an Sartre über Josie Fanon gelästert hat.
Die Abschnitte über die Krankenschwester Kim Kum-sun in Pjöngjang und über den Revolutionär Frantz Fanon sind Lanzmanns Glanzstücke. Er beutet nicht nur sein Gedächtnis aus, er badet in Details, und sie sind es, welche die 682 Seiten (inklusive Personenregister und Quellenhinweise) durchweg spannend machen. Doch in aller Unschuld sei es gesagt: Es gibt auch fade Passagen. Wählerisch ist Lanzmann nun einmal nicht, und nicht nur, wenn er sich als Herold des Theaters und der Literatur feiert, überzieht er sein Konto.
Im März 1967, wenige Wochen, bevor die Israelis losschlagen, um sich im Sechstagekrieg aus Würgegriff ihrer arabischen Nachbarn zu befreien, reist Claude Lanzmann mit Sartre und Castor durch Ägypten und Palästina. Er muss die Erkundungstour abbrechen, um in Paris eine Ausgabe ihrer Zeitschrift LesTemps Modernes über die Konflikte im Nahen Osten abzuschließen. Seine Freunde und Gönner setzen die Inspektion ohne ihn fort, wörtlich: „Ohne mich als Mentor, der ihnen zu sagen wagte, was sie denken sollten“. Sind sie noch Freunde? Wohl doch, aber das herzinnige politische Vertrauen ist dahin. Zwar billigt Sartre das mehr als tausend Seiten zählende Temps-Sonderheft mit Beiträgen über die Lage an der Schwelle des Krieges, und sie arbeiten auch weiterhin zusammen, aber auf Seite 511 ist die Katze aus dem Sack. Wie Lanzmann es sieht, hält er am Kurs der Nicht-Untreue fest, auch und vor allem als Chefredakteur der Temps. Doch im aufgeregten Jahr ´68 erträgt er nicht den Standortwechsel, den Sartre und Simone de Beauvoir vollziehen: „Ich ertrug es kaum zu sehen, wie Sartre und Castor... sich unter Blitzlichtgewitter in eine grüne Minna stecken ließen, noch weniger wie sich Sartre kleidete, nachdem er tabula rasa gemacht hatte – Anzug und Krawatte wurden über Bord geworfen, ausgewaschene Pullover und Blouson waren Pflicht.“
Die 68er Revolte eine Frage der Mode? Zum Glück hat sich Sartre den Ansprüchen der jungen Genossen dann doch entzogen und – wohl im Pullover – sein Flaubert-Buch zu Ende gebracht, „ein Buch über einen Bourgeois, geschrieben für die Bourgeoisie“ (Lanzmann). Nicht die Literatur, die Freundschaft litt unter dem Aufruhr der Studenten, und im Patagonischen Hasen fehlen fortan die Partner in der Auseinandersetzung um die besten Einsichten. Lanzmann dreht drei Filme, darunter seinen Jahrhundert-Film, und ist damit ausgelastet. 150 Seiten später kommt er auf Sartre und Castor zurück, erinnert an die herzzerreißende Trauer Simone de Beauvoirs an Sartres offenem Grab und vergisst nicht, gebührend die Schwierigkeiten herauszustreichen, welche er selber damit hatte, den Parcours des Trauerzuges festzulegen und ihn über die Runden zu bringen.
DER PATAGONISCHE HASE ROWOHLT, 682 S., 24,95 € |
Einer ist viel herumgekommen und redet wie losgelassen darüber. Wie seine Filme erteilt Lanzmanns Autobiographie Auskunft über das zwanzigste Jahrhundert. Mit Shoah haben die Haken, die er nun schlägt, insoweit zu tun, als der Selbstdarsteller Lanzmann sich völlig zu Recht seiner Filme rühmt. Fürs Amüsement sorgt seinTemperament. Doch hätte der Lektor hundert Seiten oder mehr aus dem Buch herausgestrichen, niemand hätte etwas gemerkt. Die Bemerkung ist müßig. Das Buch ist seinem Autor passiert, niemand konnte ihn aufhalten, und so will er gelesen werden.
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