Montag, 6. September 2010

Gene? Reflexe? – Versuch eines Raisonnements

Pawlows Hund im Versuch                Abb.: jn-Archiv
As en Kirl an de Sprütt, mit diesem Lob meinte meine Großmutter Feuerwehrleute, die ausrückten, um einen Brand zu löschen. Für Nicht-Plattdeutsche: Wie ein Mann an der Spritze... Betont: der unbestimmte Artikel ein. Ich höre noch heute den Lärm der lodernden Nacht und sehe die Helm- und Nackenschutzträger zu den roten Wagen mit den langen Leitern rennen. Dass unter Brandschützern auch Brandstifter sein können, lernte ich erst später. Doch bleiben wir enger am Anlass: Politiker unterschiedlicher Couleur reagieren einer wie der andere, wenn einer von ihnen aus der Reihe tanzt. Sie rotten sich gegen den Störenfried zusammen, und wenn ihnen genug einfällt, worüber sie sich empören können, setzen sie ihn vor die Tür. (Immerhin sind Praktiken wie Genickschüsse, Nächte der langen Messer, Schauprozesse und Transporte ins KZ und in den GULag weitgehend aus der Mode.) Die Vermutung, dass irgendwo ein Gen in den Politikern lauere, auf das sich ihr kollektives Verhalten zurückführen lasse, mag zwar naheliegen, empfiehlt sich aber nicht zum Vortrag in der Öffentlichkeit; wer von Genen redet, löst massenhafte Gegenwehr aus. Deswegen schlage ich einen Paradigmenwechsel vor: Sprechen wir künftig von bedingten Reflexen statt von Genen. Beim Blättern in der Wissenschaftsgeschichte ergeben sich allerdings auch dann störende Fragen.
Bechterew
           Abb.: jn-Archiv
Ein Reflex ist laut Lehrbuch eine durch den Willen nicht oder nur notdürftig zu beeinflussende unmittelbare Reaktion des Nervensystems auf einen Reiz. Das Lid zuckt, wenn ein Staubkorn ins Auge gerät, ein Säugling, der ein Schwindelgefühl spürt, klammert sich an die Mutterbrust, Bratenduft lässt das Wasser im Munde zusammenlaufen undsoweiter. Allgemeiner gesagt: Reflexe haben elementare Funktionen; womöglich retten sie uns immer wieder das Leben. Und: Auf unwillkürliche Reaktionen sind Mensch und Tier offensichtlich schon bei der Geburt programmiert. – Dieses Bild machte sich die Wissenschaft von den Nervenwegen, bis die russischen Neurologen Wladimir M. Bechterew (1857–1927) und Iwan P. Pawlow (1849–1936) in Experimenten mit Hunden sogenannte bedingte Reflexe nachwiesen. Bechterew brachte seinen Tieren mit einer einigermaßen simplen Versuchsanordnung bei, ohne Harndrang das Bein zu heben. Er traktierte sie mit Stromstößen und ließ gleichzeitig einen Summer ertönen. Nach einer Weile, verzichtete er auf die elektrischen Schläge und ließ es nur noch summen. Die Hunde hoben trotzdem das Bein, und der angestrebte Beweis galt als erbracht. Gene schienen nicht mehr im Spiel zu sein. Bei Pawlow tauchten sie jedoch wieder auf. Er setzte die Speicheldrüsen im Hundemaul in Tätigkeit, indem er beim Füttern eine Glocke anschlug, früher oder später die Nahrung zurückhielt und den Speichelfluss allein durch den Glockenklang auslöste. Die Hunde brauchten unterschiedlich lange, bis sie überzeugt waren, dass der Glockenschlag eine Mahlzeit ankündigte.  Es gab – der Schluss drängte sich auf – von Natur aus kluge, und es gab dumme Hunde.
Pawlow              Foto: jn-Archiv
Die Politik aber erteilte der Wissenschaft eine Abfuhr. Wladimir Bechterew starb an Gift, und erzählt wurde, Stalin selber habe befohlen, dem Forscher den Todestrank zu verabreichen, weil der den großen Jossif Wissarionowitsch, der eben von Lenin den Kreml geerbt hatte, durchschaut und bei ihm eine Paranoia diagnostiziert habe. Die Maßregeln, die Stalin gegen Iwan Pawlow ergriff, waren subtiler. Er gönnte dem Nobelpreisträger einen natürlichen Tod, berief aber Trofim D. Lyssenko zum obersten Genetiker der Sowjetunion, und dieser Bauernsohn aus der Ukraine hatte nichts Eiligeres zu tun hatte, als alle Genetik offiziell für Unsinn zu erklären und mit Versuchen zu beginnen, durch Kreuzung Roggen in Wunderweizen zu verwandeln. Die Folgen waren Hungersnöte, unter denen die Sowjetbürger bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts litten.
Wer wissen will, was passiert, wenn Politikern zu Leuten, die mit eigenem Kopf denken, nichts als Maßregeln einfallen, stößt in der Weltgeschichte des Wissens auf horrende Beispiele. Sie finden sich nicht erst anno 399 v.Chr. in Athen beim Justizmord, den angebliche Demokraten an dem Philosophen Sokrates begingen, und mit Stalins GULag haben sie kein Ende gefunden. Nicht alle Maßregeln sind – zugegeben – gleich grässlich, und ins große Wehret den Anfängen! müssen wir nicht jedes Mal ausbrechen. Wir könnten diese Parole getrost Klaus Wowereit überlassen, der erklärtermaßen schon vor Thilo Sarrazins ungeschriebenem nächstem Buch zittert, bevor er die 464 Seiten gelesen hat, über die er bei Anne Will redet. Wir könnten uns sogar mit bedauerndem Stirnrunzeln begnügen, wenn die Vizepräsidentin des Bundestages Katrin Göring-Eckardt – ebenfalls bei Will – Sarrazin nicht nur vorschreiben will, worüber er schweigen, sondern auch was er auf welcher Seite seines Buches sagen solle. Wenn aber Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière Arm in Arm mit den Spitzenkräften der Opposition Sigmar Gabriel und Claudia Roth die Stimme erheben und einen Autor zur Ordnung rufen und abstrafen wollen, als wäre dies selbstverständlich ihres Amtes, wird es ernst.
Es ist ernst, und dass Politiker wie Wolfgang Bosbach und Klaus von Dohnanyi dem Abweichler Sarrazin nicht an die Kehle wollen, ist ein schwacher Trost, solange es im Politbetrieb nicht mehr Köpfe wie sie gibt.
jn, 6. September 2010

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