Mittwoch, 1. September 2010

Vergnügen an Grass

Nach dem Erkundungsgalopp sattele ich die Rezensenten-Rosinante ab, führe sie zurück auf die Weide und gönne mir für dieses Mal das Vergnügen, das Gelände zu Fuß in Augenschein zu nehmen. Weniger blumig: Nach gut fünfzig von 358 Seiten beschließe ich, keine Rezension zu verfassen. Stattdessen stimme ich den Kollegen zu, die Günter Grass für Grimms Wörter – mir eine Nasenlänge voraus – schon die Honneurs dargebracht haben, blättere in dem wunderschönen Buch und genieße den hinreißenden Versuch des Verfassers, der Sprache auf die Schliche zu kommen.
Günter Gras: Grimms Wörter
Steidl, Göttingen, 365 S., 29,80 €
Aus zufälligem Anlass als Kostprobe der Arbeitsweise der Brüder Grimm ein Bruchstück ihrer Auskunft über Galopp, galoppen, galoppieren im vierten Band ihres Deutschen Wörterbuchs: 1,a)  nhd. seit dem 17. jahrh. verzeichnet (nl. schon am ende des 16.: galoppe, waloppe, gradarius cursus, rotundus cursus (...), aber nach dem galopieren aus dem 16. jahrh. gewiss älter: galopp, galoppo (...) teutsch-it. wb. 1678 499a; einen galop reiten, exultanter equitare. (...), auch im 18. länger noch ganz franz. galop, den galop gehen (vom pferde), in galop bringen (...), in vollem galop (...) Als Beispiel für die eigentliche Bedeutung: und hurre hurre, hop, hop, hop! / gings fort in sausendem Galopp (...), als Exempel für ein übertragene Verwendung: „so rennet nun alles in vollem Galopp / und kürt sich im Saale sein Plätzchen.“
Die drei Punkte in Klammern stehen jeweils für Quellen, die heute kaum jemand zur Hand hat – mit Ausnahme vielleicht der beiden letzten; die nämlich sind das 1789 im ersten Band der Gedichte gedruckte und gelegentlich noch in Anthologien auftauchende  Spinnerlied Gottfried August Bürgers, des Autors der Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, sowie Goethes Hochzeitslied aus dem Jahre 1802.
Nur so viel also aus gut anderthalb Wörterbuchspalten zum – wie gesagt zufällig – herausgegriffenen und nicht sonderlich wichtigen Wort Galopp, ein Schnipsel aus anderthalb Spalten von imponierender Gelehrsamkeit, aus einer vergleichsweise knappen Auskunft, das aber hoffentlich den Umgang der Wörtersammler Jacob und Wilhelm Grimm mit den Wörtern hinreichend charakterisiert.
Mit Material dieses Zuschnitts spielt also Günter Grass, in herzlicher Zuneigung zu den Grimms, ihre große Leistung bewundernd und ihr das Seine abgewinnend. Er schildert, wie sie, Mitglieder der Göttinger Sieben, die politischen Bedrängnisse bestehen, die ihnen die Verfassungstreue einträgt, er erörtert die Familienverhältnisse, er bewundert ihren Fleiß und findet heraus, was Jacob von Wilhelm unterscheidet: „Zugleich musste gelesen und gesammelt werden. Schnell greibare und rar gewordene Bücher wurden gewälzt. Es galt, in Schottels und Adelungs überkommenen Wortsammlungen nachzuschlagen, auch wenn Jacob deren Bemühungen eher geringschätzte. Doch hatten die Brüder noch kein System gefunden. Planlos und wie auf gut Glück fraßen sie sich durch den Wörterbrei. Einige Lieferanten mussten, weil unzuverlässig, abgewiesen werden. Von arg war Ärger abzuleiten. Und auch noch das: Im fernen Göttingen schien Wilhelm von wechselnden Stimmungen eingetrübt zu sein – der ihm angeborene Trübsinn. Und Jacob lief Gefahr, sich zu verzetteln.“
Der Unterschied der Temperamente zwischen den Grimms und Grass ließe auf Unvereinbarkeit schließen, wenn nicht das Gegenteil bewiesen würde. Hier vor allem Grübelei, Wissenschaft, vom Kopf und vom Gemüt her betrieben, dort der unbändige Spieltrieb, aber sie passen zusammen. Dass Grass trotzdem Grass bleibt erstaunt am meisten. Selbst den SS-Mann und den SPD-Wahlkämpfer bringt er noch unter, und erstaunlicher Weise schlägt er die meisten Volten ohne die mindeste Peinlichkeit.  Erst als er noch einmal über den Studentenmörder in Polizeiuniform namens Kurras herfällt, reißen die Nähte. Der Kerl und seinesgleichen sind so widerlich, dass jede Aufregung verschwendet ist.
Ich wiederhole es: Die Liebeserklärung unter der Überschrift  Grimms Wörter ist ein hinreißendes Buch. Es ist lange her, dass ich Vergnügen dieser Art an einem frischen Druckwerk gefunden habe. Als anno 1959 die Blechtrommel erschien, ging es mir nicht anders. Vor einem halben Jahrhundert waren wir, Grass und ich, eben über dreißig, und nichts lag uns ferner als der Traum von abgeklärtem Dasein und besonnenem Urteil, also tat ich mein Teil, griff ich mit Lust ins Register und pries Oskar Matzerath. Enttäuschungen blieben nicht aus, Verstimmungen griffen Platz, Streit wurde unumgänglich. Zurückzunehmen habe ich kein kritisches Wort, und dass wir gegen Ende doch noch gelernt haben, moderate Töne anzuschlagen, wäre allein kein Grund, die Hand auszustrecken. Den Anlass liefern jetzt Grimms Wörter.

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