Freitag, 27. August 2010

Die Kunst der Ausrede oder Schwamm drüber?

Der Althistoriker Christian Meier ist ein Gelehrter milder Denkungsart, er neigt zur Verehrung großer Einzelner, was seine Caesar-Biographie zeigt, und er stellt das Wohl des Gemeinwesens über die Ansprüche der Individuen, was seine Monographie über das klassische Athen verrät. Jetzt hat er sich bemerkenswerte Gedanken über Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns gemacht. Um Gutach­ter, die zum Vergessen raten, ist er nicht verlegen.
Daran führt kein Weg vorbei: Nirgendwo und nie in der Weltgeschichte der Kriege gab es mehr und grausamere Verbrechen als zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 von deutscher Hand. Zwar musste längst nicht mehr bewiesen werden, dass eine Unzahl von Untaten zwangsläufig in kollektive Unmoral mündet, aber Hitler setzte alles daran,  es der Welt ins Hirn zu hämmern. Nach den Regeln der alten Tragödie wäre den Deutschen kaum etwas anderes übrig geblieben, als ihrem Führer in den Tod zu folgen, nachdem er sich im Bunker der Reichskanz­lei erstens vergiftet und zweitens erschossen hatte. Stattdessen entwickelten sie die Kunst der Ausrede zur Höchst­form. Und tatsächlich: Konnte nicht so gut wie jeder sein Gewissen beruhigen und geltend machen, dass er selber weniger angerichtet hatte als die sogenannten Hauptkriegs­verbrecher? Schuld war nur individuell abzuwägen, was auch die von den Siegern bestellten Richter im Nürnberger Prozess gelten ließen, und so gruppierte man das Volk nach Schuld­anteilen. Untere Ränge kamen mit ein bisschen Berufsverbot davon.
Christian Meier                                                       Copyrigh: Isolde Ohlbaum
Christian Meier, zu Hause im alten Griechenland wie wenige, erörtert gründlich, wie es die Hellenen mit der Gerechtigkeit hielten: Sie erfanden das Wort mnesikakein, meinten damit: sich oder andere an Schlimmes erin­nern, zum Beispiel an die Ermor­dung von Kriegsgefangenen oder die Versklavung ihrer Frauen und Kinder, und sie entwickelten daraus einen Straftatbestand. Der Dichter Phrynichos handelte sich um die Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert vor Christus neben dem Verbot, sein Werk noch einmal aufzuführen, eine Geldstrafe von tausend Drachmen ein, weil er  das Publikum auf dem Theater mit dem Schicksal der Griechen­siedlung Milet an Küste Kleinasiens zu Tränen gerührt hatte, nachdem die Perser die Mauern der Polis geschleift hatten.
Maßnahmen zur Disziplinierung des Volkes konnten sich auch auf Verträge zweier Frieden schließender Staatswesen mit dem Zweck gegenseitiger Schonung gründen, wobei jedermann die beiderseits hinterhältige Absicht durchschaute, was aber nichts änderte, solange die vorgesehenen Strafen zu erwarten waren. Der Geschichtsschreiber Thukydides sagt darüber: „Eidliche Abmachungen zur Versöhnung, in der Not geleistet, galten für den Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wussten“ (Geschichte des Peloponnesischen Krieges 3,82,7). Christian Meier fügt hinzu: Bei nächster Gelegenheit seien die Verträge gebrochen worden, „wobei der, der als erster wieder Mut fasste, im Vorteil war.“
Und Meier verfolgt das Lob des Vergessens und Verschweigens zurück bis zu Homer und zu dessen Odyssee: Nachdem der Held Odysseus die Jünglinge niedergestreckt hat, die sich während seiner Abwesenheit an seine Frau herangemacht haben, verkündet Zeus mit olympischer Autorität: „Wir wollen ein Vergessen des Mordes an den Söhnen wie den Brüdern setzen (verkünden, anordnen, verfügen, befehlen), und sie sollen einander befreundet sein wie vorher, und es soll Reichtum und Friede in Fülle sein.“ Was – wie Christian Meier hinzufügt – jemand natürlich leicht sagen kann, wenn er der oberste der Götter ist.
Doch aller Fragwürdigkeit  der Wohltat des Vergessens trotzend, haben die besten Köpfe der Antike Zeus zugestimmt. Seneca der Redner, der Vater des berühmteren Philosophen gleichen Namens, hat ohne Umschweife den Grund genannt: Optima civilis belli defensio oblivio est - zu vergessen ist die sicherste Methode, den Bürgerkrieg zu vermeiden. Auch Cicero, der sich hervorragend darauf verstand, Taten und Untaten gegeneinander abzuwägen, war dieser Überzeugung – und Christian Meier überrascht uns, indem er zustimmt.
Zwar sieht er Hinderungsgründe: Greueltaten der Hauptübeltäter waren noch nie anders zu sühnen als durch härteste Strafen. Danach aber sollte die Vergangenheit ruhen, denn es galt, die Zukunft zu meistern. Und jedermann sah dies quer durch die Jahrhunderte nur zu gern geschehen, solange er Gefahr lief, bei einer Abrechnung den Kürzeren zu ziehen. Nur die Juden wollten sich unbedingt daran erinnern, was im Lande Kanaan die Amelekiter ihnen angetan hatten, als Moses sie zum verheißenen Land führte (Exodos 17,8-16). Von diesem dünnen Eis zieht Christian Meier allerdings den ausgestreckten Fuß rasch zurück; der Frage, auf die es ihm ankommt, nähert er sich erst gut fünfzig Seiten später entschlossenen Schritts: Verbot und verbietet sich nach den Verbrechen gegen die Menschheit im Zweiten Weltkrieg ein- für allemal der Gedanke, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um die Zukunft zu gewinnen? Oder darf gefragt werden, und zwar „mit allem Nachdruck“, ob bis in die späten fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, genauer: „bis 1958“, in der Bundesrepublik Deutschland die Wahrheit über die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen „wirklich zumutbar“ gewesen wäre?
Fragen darf bekanntlich jeder, und zwar stets und immer und nach allem. Erst recht darf ein Gelehrter vom Ruf Christian Meiers nachfragen. Er sollte es sogar tun. Nur muss er sich Gegenfragen gefallen lassen. 
Das Gebot zu vergessen...
Siedler, München, 159 S., 14,95 €
Fragen wir also pars pro toto: Konrad Adenauer soll die Dinge  früh  auf den Punkt gebracht und verkündet haben, mit Hitlerjungen, die noch grün hinter den Ohren seien, könne er keinen Staat machen, was heißen sollte, dass ihm erwachsenes politisches Personal, das ohne Schrammen die Jahre des Unheils überstanden hatte, nicht zur Verfügung stand. Also stellte der erste Kanzler der Republik Leute wie den Ministerialdirigenten Hans Globke ein, und die Rechnung ging auf. Globkes Nachkriegs-Karriere lieferte das Muster. Der begabte Jurist hatte  am ersten Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen mitgeschrieben. Nun erwies er sich als „Stützpfeiler der Kanzlerdemokratie“, diente sich zum Staatssekretär hoch und harrte an der Seite seines Chefs aus, bis Konrad Adenauer zähneknirschend  das Palais Schaumburg zu Bonn am Rhein räumte. Inzwischen schrieb man das Jahr 1963. Wieso nennt Christian Meier also 1958 als das Jahr, in dem die Nation vom Vergessen aufs Erinnern umgestiegen sei?
Er weiß, was er sagt: In jenem Jahr 1958 verurteilte das Ulmer Schwurgericht im sogenannten Einsatzgruppenprozess zehn Angeklagte einer Polizeitruppe, die à la Globke nach Kriegsende ungerührt ins bürgerliche Leben zurückgekehrt waren, wegen gemeinschaftlichen Mordes in 4000 Fällen zu Gefängnisstrafen von drei bis zehn Jahren. Unsägliche Verbrechen der NS-Zeit waren längst auch vor deutschen Gerichten verhandelt worden, aber die Nation hatte den Kopf in den Sand gesteckt. Diesmal begriff sie auf wundersame Weise, wovon die Rede war, und die Erinnerungskultur unterminierte von Stund an und bald mit wachsendem Erfolg die Kultur des Vergessens – 1958 und nicht erst zehn Jahre später, wie dann die Achtundsechziger gern behaupteten.
Christian Meier hat also recht, und er stellt richtig. Ein fader Beigeschmack schleicht sich trotzdem auf die Zunge. Ihn bewirkt die milde Weisheit dieses Autors, sein verständnisvolles Eindringen in die Natur historischer Greuel und in die Gründe, sie zu vergessen. Bei Caesar und im alten Athen mochte diese Nachsicht hinzunehmen sein. Wer im selben Ton über die eigene Zeit redet, der riskiert, dass man ihn für einen Revisionisten hält.

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