Samstag, 11. Dezember 2010

Beste Wünsche

Die erste der bisher 81 Randbemerkungen, eine Empfehlung, den Autor Barack Obama zu entdecken, ist vor 50 Wochen, am 29. Januar 2009,  erschienen. Im Durchschnitt  handelt es sich also um 1,62 Angebote pro Woche. Der Verfasser hält dies für zumutbar. Dass sich tatsächlich nur ein ungefragt belieferter Leser die Zusendung ausdrücklich verbeten hat, nimmt er als gutes Zeichen. Trotzdem legt er jetzt eine Pause ein. Irgendwann im Januar wird er sich voraussichtlich wieder zu Wort melden.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für die Feiertage und fürs Jahr 2011
Der Verf.

Altruismus – der etwas andere Egoismus?

Die Frage, wie fest Egoismus und Altruismus in der menschlichen Seele verankert sind, stellt sich nicht nur zur Weihnachtszeit. Der Philosoph Richard David Precht widmet sich ihr in seinem Buch Die Kunst, kein Egoist zu sein auf 544 Seiten. Am Ende bedankt er sich höflich bei denen, die ihm auf seinem großen Rundgang gefolgt seien. Tatsächlich mutet er seinen Lesern unterwegs einiges zu – vor allem eine Unmenge von Zitaten. Zu den anregenden Büchern der Saison gehört sein Traktat trotzdem.
Das gute Gefühl, gut zu sein, belohnt uns für gute Taten. Diese gute Erfahrung mit dem Guten, das wir tun, so sagen uns die Hirnforscher, funktioniert dank raffinierter Chemie:  Botenstoffen manövrieren zwischen unseren Hirnlappen, vernetzen sie und lösen in ansprechbaren Regionen Erregungszustände aus, die wir als angenehme, aber auch als widerstreitende Gefühle erleben. Damit bestätigt ein Befund der Wissenschaft jüngeren Datums, was Menschen sich gesagt haben, seit sie ins Grübeln über sich selber geraten sind. Zu bedauern bleibt, dass trotzdem den klügsten Köpfen bis dato nicht eingefallen ist, was unter objektiven Gesichtspunkten das Gute eigentlich sein mag. Wir müssen uns, wie so oft in wichtigen Fragen, mit Annäherungswerten zufrieden geben. Ins Gewicht fällt jedenfalls, dass der Mensch bei allem, was er im übrigen sein mag, ein soziales Wesen ist und allem Anschein nach über ein angeborenes Talent zur Moral verfügt. Obwohl sich ihm das Wesen des Guten nicht erschließt, lernt er doch in der richtigen Gesellschaft und bei geeigneter Betreuung hinlänglich, wie er sich in unterschiedlichen Situationen verhalten soll, und weil er die Aufmerksamkeit und die Anerkennung  seiner Mitmenschen braucht, vergisst er seinen Egoismus. Er benimmt sich stattdessen altruistisch. Auf diesem Wege gewinnt er sein Selbstbild und sein Selbstwertgefühl, und um sie ist es ihm fortan vordringlich zu tun. Ferner: Die größte Gefahr für dieses Selbstbild ist der Anerkennungsverlust, denn der gefährdet unser Selbstwertgefühl. Grund genug so zu leben, dass es uns unbeschadet und unschädlich erhalten bleibt.
Der Altruismus ein etwas anderer Egoismus? Richard David Precht, Jahrgang 1964,  gelernter Philosoph und Schriftsteller von einschüchternder Eloquenz, kommt zu diesem Resultat und verteidigt es, indem er uns mit einschlägigen Einsichten eindeckt, die seit Platon und  Aristoteles im Schwange sind, vor allem aber versorgt er uns mit Interpretations-Angeboten aus den letzten hundert Jahren. Welche von Prechts jüngeren Quellen das Etikett Philosophie verdienen, sei dahingestellt, aber auch die Sozialpsychologie, auf die er sich mehr und mehr einlässt, wartet mit Argumenten auf, die sich hören lassen können. Dort, in der Sozialpsychologie, geht es um die menschliche Seele und die Auswirkung ihrer Natur auf das Gemeinwesen oder umgekehrt; in der Ethik, wahlweise Moralphilosophie genannt, handelt es sich um den der Wahrheitskern der Dinge und um ihr Gut und Böse. Der Unterschied im Anspruch ist nicht zu übersehen. Aber sagen wir, es handele sich um den bekannten Spatz in der Hand, der uns mehr wert sei als die Taube auf dem Dach. Hat doch Schon Epikur (geboren um 341, gestorben 271 v.Chr.) erkannt, alles Gut und Übel liege in der aísthesis, in der Empfindung (Brief an Menoikeus). Nicht so leicht lässt sich vom Tisch fegen, dass uns der Verfasser des Traktats über die Kunst, kein Egoist zu sein mit Zitaten und Gegenzitaten eindeckt, bis uns die Lust vergeht, über deren Stichhaltigkeit nachzudenken.
Die Kunst, kein Egoist zu sein
Goldmann, 544 S., 19,99 €
Und es bleibt nicht bei den Ausflügen in die Psychologie. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, stößt uns Precht etwa beim Schlüsselwort Fairness mit der Nase auf Experimente, die der niederländische Primatenforscher Frans de Waal und seine Kollegin Sarah Brosnan in der Emory University in Georgia/USA mit zwei südamerikanischen Kapuzineraffen angestellt haben, um herauszufinden, ob diese nicht als besonders hell im Kopf geltenden Probanden einen Sinn für Gerechtigkeit im gegenseitigen Umgang haben: Als Belohnung für die Herausgabe von Jetons fütterten die Wissenschaftler einen ihrer beiden Kapuziner mit Gurkenstücken und den andere mit Weintrauben. Das rasche Ergebnis: Der glücklichere Konkurrent konnte von den Trauben nicht genug bekommen; der andere verweigerte bald den Verzehr der Gurken und beschwerte sich über die nachteilige Versorgung mit lautem Gekreisch. Die fundamentale Schlussfolgerung lässt nicht auf sich warten: „Die Fähigkeit zur Fairness... ist keine kulturelle Zutat. Sie wurzelt tief im Tierreich.“ – Ein hübscher Gedanke! Nur verflüchtigt er sich, sobald der Einwand auftaucht, dass dem benachteiligten Kapuziner wahrscheinlich die sauren Gurken auf den Magen geschlagen seien. Wenn ihn aber wirklich Seelenpein ob der ungerechten Verteilung schmackhafter und unschmackhafter Nahrungsmittel zum Protest veranlasst hat, dann wäre diese Reaktion  mit Neid vermutlich besser benannt als mit einem rudimentären Empfinden für Fairness. Oder sollte es sich dabei um das Gleiche handeln?
Nicht nur das Verhalten von Affen, auch Vermutungen über unsere frühen menschlichen  Vorfahren in Savanne und Urwald zitiert Richard Precht gern, um uns von der Naturgegebenheit des Altruismus zu überzeugen – und er greift nach der Zeitgeschichte, nämlich nach  Christopher Brownings Bericht über das Massaker, das im Juli 1942 in der polnischen Ortschaft Jósezóf das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 an den dort lebenden 1800 Juden verübt hat, nach einer Untat, die ihre abscheuliche Dimension drei Begleitumständen verdankt, den Umständen
·      dass die Täter tatsächlich waren, was Browning über sie gesagt hat: ganz normale Männer, denen unter anderen Umständen ein vergleichbares Verbrechen nie in den Sinn gekommen wäre,
·      dass ihr Vorgesetzter ihnen deswegen freigestellt hat, seinen Befehl zu befolgen oder ihn, ohne bestraft zu werden,  zu verweigern: den Befehl, mit äußerster Gewaltanwendung Frauen, Kinder und Greise zu ermorden
·      und dass die meisten der Männer – die Rede ist lediglich von einem Dutzend Ausnahmen – trotzdem gehorcht und gemordet haben.
Für die Erörterung von Egoismus und Altruismus ist der Massenmord von Jósezóf ein Lehrbeispiel ersten Ranges. Richard Precht beschäftigen zu Recht der Konformitätsdruck der Gruppe und der soziale Reflex, nicht aus der Gemeinschaft auszuscheren: Der Druck, den das Verhalten der Gruppe auf das Verhalten des Einzelnen ausübt, funktioniert offenkundig selbst dann, wenn er der Gruppe nicht aus freien Stücken angehört, sondern aus einem gewohnten, von landläufiger Moral gesteuerten Milieu herausgerissen wird und sich in einer extremen Situation vor eine extreme Entscheidung gestellt sieht. Und der Druck funktioniert, ob der Mensch  nun im Falle nichtkonformen Verhaltens schwere persönliche Folgen zu erwarten hat oder nicht.  Der Einzelne stellt sich der Gruppe nicht in den Weg. Moralische Maßstäbe, folgert Precht, lassen sich verschieben.
Es lohnt sich, den historischen  Hintergrund etwas schärfer zu beleuchten: Als im Januar 1942  die sogenannte Wannseekonferenz den Beschluss zum Völkermord an den Juden verabschiedete, funktionierte in Deutschland das Handlungsmuster von Verführung und Gewalt (der Zeithistoriker Hans-Ulrich Thamer) seit neun Jahren. Der Konformismus der Verführten war allgegenwärtig, und er war erbärmlich. Ihn unmenschlich zu nennen, verbietet sich jedoch; tatsächlich war er menschlich. Das hybride Selbstwertgefühl der Regisseure des Schreckens riss die Volksgenossen mit, die allgegenwärtige oder zumindest jeder Zeit zu gewärtigende Gewalt im öffentlichen Leben sorgte für den (fast) ungestörten Ablauf des Zusammenspiels von Befehl und Gehorsam.
Die Hybris gipfelte dann in einer Geheimrede, die der SS-Reichsführer Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 im Rathaus von Posen vor Untergebenen hielt. Im Januar jenes Jahres hatten sich die Alliierten in Casablanca darauf verständigt, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu führen. Ende Januar, Anfang Februar warfen mehr als 100.000 Mann der deutschen 6. Armee in Stalingrad die Waffen weg und zogen in die russische Gefangenschaft. Nach zehn Monaten hielt Himmler es für angebracht, seiner Truppe zu erklären, was es für sie bedeutete, dass inzwischen nicht nur die Amerikaner auf Sizilien gelandet waren, sondern auch die Rote Armee trotz Hitlers Befehl an die Wehrmacht, nur verbrannte Erde zu hinterlassen, den Marsch nach Westen angetreten hatte.
Was seinen Leuten blühte, wenn Deutschland den Krieg verlor, sagte ihnen der SS- Reichsführer bezeichnender Weise, indem er, so wörtlich,  die Ausrottung des jüdischen Volkes als historisches Ruhmestat pries: „Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. Das jüdische Volk wird ausgerottet, sagt ein jeder Parteigenosse, ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte...“
Das Ruhmesblatt renommiert mit vieltausend toten Opfern und soll den Tätern Mut machen, mit den Massenmorden fortzufahren. ­– Weiter lässt sich die Moral nichts ins Absurde und Perverse verschieben. Nietzsches Forderung nach der Umwertung aller Werte war in Himmlers Kopf zur praktizierten Banalität des Bösen mutiert – zum Völkermord, und der Reichsführer konnte sich auf seine braven Deutschen verlassen. Mochten einige wenige aus der Reihe tanzen. Mit ihnen konnte die SS fertig werden; sie konnte sie sogar laufen lassen. Die weitaus meisten gehorchten.
Dass Richard Precht in der Menschenseele neben dem Egoismus den Altruismus verortet, kann wenig trösten, wenn dort auch die Neigungen zum bedingungslosen Gehorsam und zur Selbsttäuschung lauern, die unter Umständen die Urteile jeglicher Gewissensinstanz zunichte machen.
Precht selber greift zum Schluss seiner Tour d´horizon unverdrossen noch einmal nach einem Zitat. Ihm fällt der Physiker und Begründer einer experimentellen Ästhetik Gustav Theodor Fechner ein, der anno 1879 in einer Schrift über die Optimismus spendende  Tagesansicht gegenüber der zum Pessimismus verleitenden  Nachtansicht verfasste und verkündete: “Und geht uns nicht die Welt selbst ringsum mehr zu Herzen und ist mehr nach unserm Herzen, wenn die Sonne ihren Glanz, der Himmel sein Blau, des Meer sein Rauschen uns treulich mit vertraut, die Buche, ehe die Axt sie fällt, um uns zu wärmen, erst aufwärts strebt, um selber Licht und Wärme zu genießen, als wenn uns alles das aus der Welt nur anlügt, wie die Nachtansicht es lügt. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird...“
Die Tagesansicht jubiliert mit den Lerchen, die frühmorgens ins Himmelsblau aufsteigen und verscheucht die Albträume der Nacht. Leider bleibt es fraglich, ob die Nacht tatsächlich lügt und der Sonne Glanz zur Seeligkeit einlädt. Richard Prechts Vorschlag, uns dem zuversichtlichen Professor Fechner aus Sachsen nach der Rundum-Betrachtung der Menschenseele befreiten Herzens anzuschließen, fällt schwer.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Der Zaunkönig

Ich mache mir Sorgen
um meinen Zaunkönig.
Zu lange habe ich ihn
nicht gesehen

Drei Möglichkeiten:
Er ist verstorben.
Oder der Teilzieher
fand es irgendwo schöner. 
Oder er verbirgt sich 
absichtlich vor mir.

Ich hoffe, Möglichkeit drei
ist der Fall und ich sehe ihn
unverhofft wieder

jn, 2. Dezember 2010

Samstag, 27. November 2010

Versiegelte Rätsel: Der Maler Tomasz Zielinski

Tomasz Zielinski: Großer Bonsai, Öl auf Leinwand, 175 x 145 cm
                                                 Copyright: Tomasz Zielienski 

Der Maler Tomasz Zielinski mag keine Fragen zur Person. Die Fragen sind die üblichen. Wann und wo geboren? 1954 in Warschau. Wann hat Tomasz gewusst, dass er Künstler werden wollte? Nicht Künstler: Maler. Dass er malen wollte, stand für ihn schon in der Schulzeit fest. Seine Eltern, beide Naturwissenschaftler, nämlich Chemiker, hatten Bedenken. Andererseits war Kunst damals in Polen kein brotloses Gewerbe. Wer etwas gelernt hatte, konnte auch davon leben; also waren die Eltern halbwegs einverstanden, als die Akademie den Bewerber aufnahm. Wie es in der Akademie zuging? Tolerant. Niemand wurde auf den Sozialistischen Realismus vereidigt. Alle wussten, was Westkunst war, und wer sich auf sie einlassen wollte, konnte es tun. Die Lehrer holten das Talent ihrer Schüler sorgsam ans Licht. Im Rückblick erscheint die Zeit als Meisterschüler sehr kurz gewesen zu sein. Warum dann schon mit 27 Jahren nach Deutschland? Das ist eine persönliche Frage. Zu persönlich.
Reden wir also lieber über Tomasz Zielinskis Malerei, über eine Serie aus jüngster Zeit.
Die Gegenstände, ob in Wasserfarben oder in Ölfarben festgehalten, leuchten in bestechender Qualität. Diese Bilder sind versiegelte Rätsel. Wenn sie jemand lösen kann, dann nur auf persönliche Weise – auf dem Weg über die eigenen Assoziationen.  Das ergibt zwangsläufig persönliche Antworten. Die Antworten, die der Maler selber geben könnte, würden nicht anders ausfallen. Persönlich eben. Aber über Persönliches redet er nicht. Richtig, der Baum, der da vor Staffelei schwebt, ist ein vertrockneter Bonzai. Ob die Farb-Etüde links unten eine Palette oder ein Gemälde in ungewöhnlicher Gestalt ist, vielleicht ein verbeulter Globus, bleibt offen, ist also nur persönlich zu beantworten. Die Dinge begegnen einander wie bei Max Ernst, im Surrealen. Sie sind Fallen für die Phantasie.
Ich frage, wie diese Bilder zustande kommen. Die Antwort: „Mich irritiert etwas. Ein politisches Ereignis. Eine soziale Frage. Ein existentielles Ärgernis. Was auch immer. Ich denke darüber nach. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen. Wie es sich gehört. Diszipliniert. Und während ich denke, male ich. Ich illustriere nicht meine Gedanken, das ganz und gar nicht, aber da entsteht ein Bild, und es hat zu tun mit dem, was ich denke. Es setzt Phantasie frei. Unabhängig vom Thema, über das ich mir den Kopf zerbreche.“
Frage: „Wie funktioniert das, wie soll es gut gehen?“
Antwort: „Ein Drittel dieser Bilder überzeugt mich sofort. Ein Drittel werfe ich gleich weg. Ein Drittel lasse ich ein paar Tage liegen, um vielleicht etwas in ihnen zu entdecken, was ich nicht sofort gesehen habe.“
„Noch einmal die Frage: Wie kann es überhaupt klappen?“
Antwort: „Andere kritzeln beim Telefonieren. Ich male beim Denken. Oder nimm das Autofahren. Du fährst tadellos. Und gleichzeitig entspannst du dich. Du genießt Musik oder lässt dich von einem Hörbuch einfangen. Das läuft zweispurig. Ich denke und male auf zwei Spuren. Irgendwie schizophren.“
Ich frage: „Bist du ein Philosoph?“
Tomasz Zielinski: „Nur weil ich denken mag?“
Und nach einer Bedenkpause sagt Tomasz: „Ich würde auch gern selber noch eine Frage stellen...“
Ich stimme zu, und Tomasz fragt: „Ist das nun ein Abenteuer oder eine Aufgabe?“
„Eine Aufgabe? Wer stellt sie dir?“
„Das kann ich nur selber. Ich bin Atheist. Mit einem Hauch von Mystik. Mit einem Hauch von Hoffnung. Glaube ich.“

Augustus, der andere Heiland?

Die Fachwelt scheint sich einig zu sein: Der Emeritus für Alte Geschichte an der TU Berlin Werner Dahlheim hat bis auf weiteres das maßgebliche Buch über Augustus geschrieben, über den „politischen Niemand“, der sich mit faszinierendem Machtinstinkt zum ersten römischen Kaiser über das von seinem Gönner Julius Caesar geschaffene Imperium erhob und dessen Weltreich komplettierte. Das Echo klingt zum Beispiel so: „Elaborierte Quellenkritik steht da neben süffigem Tratsch. Dahlheims Augustus nimmt radikal Partei für den Leser und setzt einen Standard, den die Geschichtswissenschaft zu lange vernachlässigt hat. Dabei ist Dahlheims Werk nicht einfach eine elegant formulierte Beschreibung eines Lebens. Ihn leitet ein geschichtsphilosophisches Motiv: Was machte den Usurpator und Massenmörder zum Friedensbringer und Heiland?“
Das Leben des Gaius Octavius, der sich dann Octavian nannte und den die Römer zum Augustus erkoren, also zum Erwählten oder Erhabenen, und den sie auch so anredeten, zerfällt in zwei Teile, in anderthalb Jahrzehnte vor dem Jahre 27 vor Christus, dem Jahr der formalen, in Wahrheit vorgetäuschten Rückgabe der Staatsgewalt an Senat und Volk aus der Hand des Siegers im Bürgerkrieg, und in nahezu viereinhalb Dezennien danach: Vor dem Jahr der Entscheidung verlieren Zehntausende von Römern im Kampf der Mächtigen um die Macht ihr Leben, noch mehr Menschen stürzen in Armut und Elend, und politischer Massenmord dezimiert die Eliten Roms. Nach seinem Sieg tut Augustus alles, seine Schwüre auf Wohlstand und Frieden einzulösen. Er verlegt den Krieg in Territorien jenseits der Grenzen des Imperiums und lässt sich von Millionen römischer Bürger, die er en passant entmündigt hat, als Friedensherrscher feiern.
Die Geschichte ist gründlich erforscht; erstaunlich bleibt trotzdem bis heute, wie es Augustus gelingen konnte, alle Mitbewerber um die Macht zu übertrumpfen und den Senat dazu zu bewegen, sein Spiel zu akzeptieren, das Spiel nach dem unausgesprochenen Motto: Ihr sagt, dass ihr Rom regiert, lasst es aber bleiben, während ich behaupte, nicht zu herrschen, aber tatsächlich in Machtvollkommenheit die Regierungsgeschäfte leite und lenke. Die Geschichtsschreiber zerbrechen sich darüber seit Tacitus und Sueton den Kopf. Dahlheim reiht sich gut gelaunt bei ihnen ein.
Den entscheidenden Fehler begingen Caesars Mörder unmittelbar nach der Tat. Sie warfen ihr Opfer nicht in den Tiber, wie es nach dem Gesetz mit abgestraften Feinden des Vaterlandes zu geschehen hatte, sondern ließen es zu, dass das Volk dem Mann, der das Staatsverbrechen begangen hatte, nach absoluter Macht zu greifen, auf dem Marsfeld einen Scheiterhaufen mit überbordenden Totengaben errichtete und seine Seele mit dem Rauch des Feuers auf die Reise zu den Göttern schickte. Den Rest besorgte Caesars Mitkonsul Antonius, als er daran erinnerte, dass alle Wohltaten entweder zu bestätigen und einzulösen oder offiziell zu annullieren seien, mit denen der Diktator seine Anhänger beglückt hatte. Diese Anhänger waren nicht nur Senatoren, die Caesar ins Amt gerufen, sondern auch Soldaten, denen er als Altersversorgung Land versprochen hatte. Weder die Senatoren noch die Soldaten, die unter ihren Feldzeichen in der Stadt bedrohlich Quartier gemacht hatten, hatten Lust, Ämter oder Ansprüche zu verlieren, und sie sorgten dafür, dass die Entscheidung zu ihren Gunsten ausfiel. Das hieß: Die Verschwörer hatten Caesar getötet, aber der tote Caesar siegte über die Verschwörer.
Noch im Glauben, der Republik, für die er lebte, winke die Wiederkunft, brachte Cicero, der Lehrmeister der Republik, die Dinge auf den Punkt: Fürs Weitere – das hieß: solange offen war, wem die Macht am Ende zufiel – war es das Klügste, sich darauf einzurichten, dass Geld und Soldaten den Ausschlag gaben. So kam es tatsächlich. Julius Caesars Legionen traten in hinreichender Zahl in den Dienst seines Erben, und Gelder flossen Augustus ebenfalls genug zu. So bekam er die Chance zu beweisen, dass er imstande war, über die Leichen seiner Widersacher hinwegzuschreiten und anschließend den Ruhm als Wohltäter der Menschheit einzuheimsen – jedenfalls jenes Teils der Menschheit, der römisch war. Wie Werner Dahlheim diese Geschichte erzählt, eignet sie sich zum unbeschwerten Genuss, aber niemand sollte sich gehindert sehen, sie als Lehrbuch für den Umgang mit der Macht zu studieren.
Eine Zutat bleibt allerdings gewöhnungsbedürftig. Einschließlich der Kriege, in die Augustus bis in seine letzten Jahre die römischen Legionen schickte, schiebt Werner Dahlheim die gewalttätige Machtpraxis seines Helden mehr und mehr beiseite. Sodann vertieft er sich so lange in den Gedanken an den Friedensstifter Augustus, bis er ihm der Wegbereiter des Jesus von Nazaret und des Christenglaubens vor Augen steht. Doch dabei vernachlässigt der Biograf einiges allzu großzügig.
Werner Dahlheim: Augustus
448 S., 26,95 €, Beck, München 2010
Ein Wanderprediger in abgelegener Provinz eines Weltreichs gibt sich als Sohn Gottes aus und überzeugt mit seinem bescheidenen Lebenswandel, mit seinem qualvollen Tod am Kreuz und mit seinen überaus friedfertigen Lehren nebst einigen mehr oder weniger verbürgten Wundern die Menschen. Unterdessen restauriert der Inhaber staatlicher Allgewalt in Rom die Tempel des Römerreichs, aber es handelt sich um die Gemäuer der alten Götter, und dass Augustus mehr im Sinn hat, als die eigene Herrschaft mit Hilfe religiöser Riten abzusichern, darf bezweifelt werden (siehe: Robert M. Ogilvie, ...und bauten die Tempel wieder auf – Die Römer und ihre Götter im Zeitalter des Augustus, dtv, München 1982).
Nicht weniger fallen die Haltungen und die Absichten der beiden Akteure der Weltgeschichte ins Gewicht. Jesus aus Nazaret lässt keinen Zweifel daran, in wessen Auftrag und mit welchem Ziel er in Galiläa und Judäa unterwegs ist, und er sagt kein Wort, von dem er nicht in tiefster Seele überzeugt ist. Augustus hingegen spielt um die Gewalt über die Seelen seiner Untertanen, indem er zu seinen Lebzeiten seine Erhebung in die Gesellschaft der Götter verhindert, aber trickreich dafür sorgt, dass sie ihm prompt widerfährt, nachdem er seinen letzten Atem ausgehaucht hat. (Den Schwur eines Senators, er habe gesehen, wie ein Adler vom kaiserlichen Scheiterhaufen zum Himmel aufgestiegen sei, womit die Sache als ausgemacht gelten sollte, belohnt die Kaiserinwitwe Livia mit der Kleinigkeit von einer Million Sesterzen.)
Die Divergenzen könnten kaum größer sein. Entscheidend aber ist die simple Tatsache, dass sich eine unbezwingliche Sehnsucht römischer Untertanen, an einen Retter glauben zu dürfen, mühelos ohne Theologie erklären lässt. Wie wenn die Römer einfach das Leiden an der Politik satt hatten und deswegen auf den Machtmenschen setzten, dem sie am ehesten zutrauten, sie vor Not und Tod zu bewahren?
Bei allem Respekt vor der Gelehrsamkeit und der Originalität Dahlheims, in seiner Lehre von den zwei Heilanden passt zu viel nicht zusammen. 

Dienstag, 23. November 2010

Auszeit für alle

Ein Vorschlag zur Güte: Man schließe für zwei  oder drei Jahre alle mit Steuergeldern geförderten kulturellen Einrichtungen in sämtlichen Städten und Gemeinden der Republik, schicke die in ihnen Beschäftigten mit ungekürzten Gehältern in eine kollektive Sabbatzeit und warte ab, was sich ergibt, wenn man nachher erstens die Einsparungen nachrechnet und zweitens das Volk fragt, ob es etwas vermisst habe. Die Prognose: Das Experiment schlägt nicht weitaus nur günstiger zu Buch als alle denkbaren Sparmaßnahmen bei laufendem Betrieb; obendrein ist das Publikum ganz einverstanden damit, dass ihm niemand mehr zumutet als TV-Programme, die sich ja durch Gebühren oder Werbung finanzieren lassen. Dann und wann ein Fernsehfilm, der aus dem Rahmen fällt, oder diese oder jene Talkshow, welche die Gemüter zu Recht erhitzt – das genügt zur Befriedigung höherer Ansprüche.
Und ehrlich gefragt: Liefert uns der gegenwärtige Kulturbetrieb tatsächlich mehr? Ein Staatstheater, das den sogenannten Roman "Axolotl Roadkill" eines durchgeknallten Teenagers namens Helene Hegemann so ungeschickt wie möglich auf die Bühne bringt? Es reicht nicht einmal zum Aufschrei. Wer sich die Prozedur angesehen hat, winkt nur noch müde ab. Doch dies lediglich in Parenthese. Es geht ums große Ganze, und dieses Ganze wirkt, als hätten die Leute, die hierzulande Kunst machen, selber die Kunst satt.
Die Kulturpolitik aber? Herausforderungen einklagen? Zulassen und fördern, dass die Grenzen über das längst Gewohnte hinaus erkundet werden? Oder auch nur der Kultur freien Lauf lassen, damit sie Zeit für die Einsicht findet, dass sie auf dem Holzweg ist? Wer kommt schon darauf? Die Politik blamiert sich querfeldein nach Kräften, und wenn sie sagen soll, wozu Kultur gut sein könnte, stottert sie erbärmlich.
Vor ein paar Jahrzehnten hat die Parole Kunst für alle! die Leute aus dem Häuschen gebracht. Soziale Skulpturen versprach, dank überbordendem ideologischem Impetus, Joseph Beuys. Peter Zadek zwirbelte, ohne einen Gedanken auf irgendeine Theorie zu verschwenden, die Darsteller in seinen Inszenierungen, bis sie „aufhörten sich zu verstellen und begannen sich zu enthüllen“ (der Zadek-Schauspieler Gert Voss). Beuys und Zadek besetzten die extremen Positionen. Zwischen ihnen schritten andere Demiurgen unterschiedlichen Formats zu anderen Taten. Sie waren unterwegs, und das Publikum zog, wie auch immer gestimmt, jedenfalls bei der Sache, mit ihnen.
Sicherlich, Revolutionen laufen sich tot und verenden als Farcen. Was stört, ist nicht der Überdruss. Hingegen stört, dass alle so tun, als stimmte lediglich die Kasse nicht. Also im Ernst: Ein großes Sabbatical, eine Auszeit für alle, kann nicht nur nicht schaden. Die verordnete Freizeit kann sogar nützen und Kräfte freisetzen, die sich ineinander enervierend verknäult haben. 

Donnerstag, 18. November 2010

Gott in der Politik oder Was steht uns noch bevor?

Zwei Politiker ziehen in Büchern auf unterschiedliche Weise Bilanz. Den zurückgetretenen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) juckt es, die höheren Zusammenhänge öffentlichen Lebens erörtern; den abgewählten Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) treibt die Frage um, welche praktischen Schlüsse seine Erfahrungen in politischen Ämtern gestatten.
ROLAND KOCH GREIFT IN DEN HIMMEL
Der Titel könnte nicht schlichter sein: Konservativ. Auf dem Umschlag lächelt der Autor Roland Koch, nicht verschlagen, wie uns seine Miene nicht selten begegnet ist, sondern freundschaftlich, kein Wässerchen trübend. Ein wackerer Wahlspruch ist gleich daneben zu lesen: „Ohne Werte und Prinzipien ist kein Staat zu machen!“ Zu beachten: das Ausrufezeichen. Im Buch erklärt uns Roland Koch dann eher behutsam, was nach seinen Begriffen das Konservative sei, seit wir die Konservativen anders als in den Tagen Ernst Jüngers und Franz von Papens nicht mehr auf den ersten Blick erkennen, also seit den Dreißigern, nachdem die Nazis die Arbeit der Linken besorgt und die deutsche Gesellschaft nachhaltig eingeebnet haben: Prinz Auwi von Preußen und der letzte Arbeiter der Faust als SA-Leute in Reih und Glied, ein Volk, ein Reich, ein Führer undsoweiter. Konservativ soll etwas anderes sein.
Roland Koch, Konservativ
Herder, 220. S., 17,95 €
Der hessische Ministerpräsidenten a.D. rühmt sich nicht übermäßig seiner Politik, er erläutert seine Überzeugungen. Konservative unterscheiden sich von den Schreihälsen am rechten Rand;  Koch wäre es ganz recht, wenn sich rechts neben ihm nur noch die Wand befände. Dass er als konservativ reklamiert, was auch andere für nützlich oder gar notwendig halten, Prinzipien und Werte zum Beispiel, wenn auch etwas andere, muss er nicht unterstreichen. Seine  Anhänger und seine Leser wissen, was er meint.
Unredlich ist das nicht, nur großzügig. Koch geht Peinlichkeiten aus dem Wege, indem er mit Schwüren haushält.  Im letzten Kapitel allerdings blüht die Bekenntnisfreude dann doch auf: Das Element oder jedenfalls die Voraussetzung konservativer Politik sei die Religion. Ein Staat, der sich nicht auf Gottes Willen berufe, lebe von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren könne (S.198). Der Verfassungsrichter Böckenförde hat es schon vor mehr als drei Jahrzehnten gesagt, aber Roland Koch pocht darauf: Das Gemeinwesen brauche  „einen festen transzendenten Bezugsrahmen“ und solle gefälligst auf den Glauben als „befreiende Kraft“ setzen. Dass nicht nur Johannes Paul II. und der Dalai Lama mit ihrem Glauben Politik gemacht haben und machen, sondern auch Osama bin Ladin und andere Glaubenskämpfer einen Glaubenskrieg führen, bleibt ein blinder Fleck. Roland Kochs eigene Überzeugungstäterschaft bringt es so mit sich.
PEER STEINBRÜCK IN BETRACHTUNG DER BODENSTATION
„Sisyphos war ein glücklicher Mensch?“, fragt Peer Steinbrück auf Seite 284 und verliert die wahrhaft tragische Figur, die Albert Camus, der Philosoph des Absurden und der Revolte, auf den Schild gehoben hat, scheinbar gleich wieder aus den Augen. In Wahrheit handelt sein Buch mit dem Titel Unterm Strich von der ersten bis zur letzten Zeile von dem Mann, der immer aufs Neue den Felsbrocken einen Steilhang hinaufrollen muss und ihn, angestoßen von boshafter Götterhand, jedes Mal kurz vor dem Gipfel wieder aus den Händen verliert. Peer Steinbrück, zu Anfang der Krise, in der wir stecken, einer Hauptakteure der politischen Szene und seit der SPD-Wahlniederlage vom Oktober 2009 schmerzlich vermisst, kommt uns noch immer mit scharf geschliffenem Urteil, und wer nicht vor der Unzahl und der Vielgestalt der Steinbrückschen Argumente kapitulieren will, braucht gute Nerven. Den Zug ins Schnoddrige hat sich der Mann nicht abgewöhnt? Wen stört es? Die Unverschämtheit hält munter.
Was Steinbrück den Spitzenkräften der Wirtschaftsmacht ins Stammbuch schreibt, ist nicht von schlechten Eltern: Die Politik hat Gestaltungskraft eingebüßt, ihren Primat hat die Ökonomie mit ihrer eigenen Façon abgelöst. Wie die Angehörigen der Unterschicht neigen nicht wenige Leute in Chefetagen dazu, eine Parallelgesellschaft zu bilden, und dummer Weise haben sie die Mittel, sich durchzusetzen. Die Schnittmuster der sozialen Marktwirtschaft respektieren sie nur, solange sie den eigenen  Zwecken dienen, und das ganze mündet in einen Siegeszug des entfesselten Kapitalismus, der sich nur noch selber zu Fall bringen kann, woraufhin prompt der Ruf nach dem rettenden Staat ertönt. So ungefähr.
Peer Steinbrück, Unterm Strich
HoCa, 480 S., 23,00 €
Die Schattenseite ist die Ohnmacht der Politik. Europas Stier lahmt. Der Verzicht auf souveräne Rechte der Staaten, denen es nicht einmal gelingt, in den Grenzen der Union die Steuern zu harmonisieren, lässt von der raison d´être der Eurozone kaum mehr übrig als die Usancen einer Transfergemeinschaft, und der personelle Faktor kümmert dahin. Überzeugende Mitwirkende werden in der Politik von Wahl zu Wahl rarer. Und bei alledem fressen die Schulden den Kassenwarten des Sozialstaats die Kassen leer.
Selbstredend hören sich Peer Steinbrücks Beweise intelligenter an, als sie hier rekapituliert werden können. Sie auf die Reihe zu bringen, erfordert reelle Anstrengung, und die Empfehlungen, wie Fehlentwicklungen korrigiert werden könnten, wollen genau durchdacht sein. Da aber Steinbrück erstens den Durchblick nicht verloren hat – was ihm dazumal die Referenten auf den Tisch gelegt haben, findet er heute mit sicherem Instinkt in den Zeitungen, und weil er zweitens über das erforderliche Temperament verfügt und nicht locker lässt, ist die Ausbeute an Bedenkenswertem hoch. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als darum, die Grundgewissheit aufleben zu lassen, „dass Interessengesegensätze und Rivalitäten ohne Zerreißproben für die Gesellschaft aufgefangen und weiterhin in die Bahnen einer geregelten Konfliktlösung gelenkt werden können“ (S. 278 f).
Gegen Ende stellt Steinbrück drei Politiker auf die Waage: Karl-Theodor zu Guttenberg, von dem abzuwarten bleibt, wie weit er es bringt („eine Lichtgestalt, die Parkettsicherheit, gesellschaftlichen Hintergrund und ein telegenes Gesicht mit einem intelligenten Kopf, verständlicher Diktion und normwidrigem Verhalten kombiniert“), Helmut Schmidt, der „mit seiner Leidenschaft für Vernunft, seinem Pragmatismus zu sittlichen Zwecken und seiner Maxime Salus publica suprema lex (das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz)“ den Mitmenschen imponiert, und – einen gewissen Horst Schlämmer.
Falls er schon in Vergessenheit geraten sein sollte: Horst Schlämmer war das Geschöpf des Komikers Hape Kerkeling. Im Sommer 2009 tauchte er aus dem Nichts auf, und wenn sich nicht schließlich herumgesprochen hätte, dass er doch nur ein Spaßvogel sei, hätte er dank seiner Behauptung „Wat die nich können, dat kann ich auch“ durchaus die Chance gehabt, ins Parlament einzuziehen.  Rückschlüsse auf das politische Personal drängen sich auf.
Im übrigen täten Steinbrücks Parteifreunde gut daran, sich seine Ermahnungen mit gewaschenen Ohren anzuhören: Die Forderung nach Parteiverträglichkeit der Ansichten von SPD-Mitgliedern etwa, ob sie nun Wolfgang Clement, Theo Sarrazin oder Heinz Buschkowsky heißen,  hat in der SPD Tradition. Doch seit sämtliche Ideologien an Auszehrung leiden, überzeugen Sprachregelungen noch weniger als jemals zuvor. Der Hinweis, dass Querköpfe nach der Maxime Im Zweifel für die Freiheit ein Recht auf ihre Ansichten haben, sollte sich auch unter Sozialdemokraten herumsprechen.
Eine Lehre aus zweifacher Rechenschaftslegung? Politiker und Parteien, die einen wie die anderen, tun gut daran, den Mund nicht zu voll zu nehmen und sich weder als sogenannte Wertegemeinschaften noch als vorgebliche Glaubenskongregationen zu überheben. Es gilt, die politische Kärrnerarbeit zu erledigen. Der geistige Überbau mag etwas Feines sein, aber für ihn ist nach Feierabend auch noch Zeit.

Dienstag, 9. November 2010

Gorleben

"Am Dienstagmorgen gegen 07.30 Uhr beendete die Polizei die Räumung der Zufahrtsstraße (zum Atommüllager Gorleben), auf der zeitweise bis zu 4000 Menschen fast 45 Stunden auf Strohsäcken und Iso-Matten ausgeharrt hatten. Aktivisten der Umweltorganisation Robin Wood, die sich an Seilen über die Zufahrtsstraße gehängt hatten, wurden von der Polizei heruntergeholt. Aktivisten der Umweltorganisation Robin Wood, die sich an Seilen über die Zufahrtsstraße gehängt hatten, wurden von der Polizei heruntergeholt." (spiegel.de)
Bei Temperaturen, die sich zusehends dem Nullpunkt näherten, haben die Castor-Gegner im Wendland  auf den Gleisen und auf der Straße länger und wohl auch friedfertiger durchgehalten als jemals zuvor bei einer ihrer Demonstrationen. Die Polizei kreidet den ermüdenden Einsatz gegen den Protest ihrem Dienstherrn an.
Und nun?

Samstag, 6. November 2010

Bitte um Nachsicht

Im fertigen Manuskript die Namen und Zahlen immer und in jedem Fall noch einmal zu überprüfen, lautet eine eiserne Regel aus den journalistischen Lehrjahren. Ich habe sie sträflich missachtet, als ich die Randbemerkung über Claude Lanzmann ankündigte. Die Erklärung, dass mein iMac über ein sogenanntes Autokorrektur-Programm verfügt und aus Lanzmann prompt Landmann gemacht hat, erklärt das Malheur, entschuldigt es aber nicht. Ich bitte darum ausdrücklich um Nachsicht.
jn, 6. November 2010 

Freitag, 5. November 2010

Die Polizei informiert


„Der Schwerbehindertenausweis allein berechtigt zu keinerlei Parkerleichterungen. Nur Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen aG) oder Blindheit (Merkzeichen Bl) erhalten eine Ausnahmegenehmigung zur Bewilligung bestimmter Parkerleichterungen.“ (Hervorhebungen vom Verfasser der Information. Aus: Hinweise des Versorgungsamtes in der Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz zur unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr und zur Kraftfahrzeugsteuerermäßigung)
Die Blindheit ist nicht hervorgehoben. Dass der Verfasser die Epitheta allein und außergewöhnlich angefettet hat, lässt jedoch vermuten, dass er sich über Leute Gedanken gemacht hat , die beim Erfassen von Texten mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ob er zu ihnen auch blinde Mitmenschen zählt, bleibt offen. Sicher ist nur: Blinde dürfen Autos fahren und sie dort parken, wo anderen das Parken verboten ist.

Mittwoch, 3. November 2010

Lanzmanns unerschöpfliche Abenteuer

Am Freitag bekommt Claude Lanzmann den WELT-Literaturpreis aus dem Hause Springer. Für seinen neuneinhalb-Stunden-Film Shoah, in dem er die Wahrheit über den Völkermord der Nazis an den Juden wie kein anderer vor die Kamera geholt hat, hätte er auch noch im nächsten Jahrhundert jeden Preis verdient. Für seine Autobiographie mit dem seltsamen Titel Der patagonische Hase ebenfalls?
CLAUDE LANZMANN PASSIERT EIN BUCH
                            Foto: Catherine Hélie, (c) Gallimard, Paris
Ein meschuggenes Buch. Nicht dass Claude Lanzmann irre wäre. Er ist ein intelligenter Mann und hat eine Menge Interessantes zu erzählen. Aber er tobt sich in seinem Erinnerungen  aus, und ihn plagt das Karl-May-Syndrom: Immer überall muss er der Klügste und Tüchtigste sein, ob er nun als Neunzehnjähriger in der Résistance gegen die deutschen Besatzer zum Schuss kommt oder auch nicht, oder ob er sich in Israel mit der Frage herumschlägt, ob er ein richtiger Jude sei oder doch nur ein irgendwie jüdischer Franzose. Die einzigen Mitmenschen, vor denen er  lange respektvollst kapituliert, sind Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoirs, genannt Castor: Die Philosophin auf eigene geistige Rechnung an der Seite des Vordenkers des französischren Existentialismus hat in ihrem Werk Das andere Geschlecht behauptet, der Adam des Alten Testaments sei „nichts als ein roher Entwurf“ gewesen. Was  den angehenden Journalisten Lanzmann angeht, kommt sie prompt zu anderen Schlüssen und teilt ihre Zuneigung zwischen Lanzmann und Sartre auf, während Lanzmanns Schwester Évelyne sich Sartre widmet. Der Ringelreihen entspricht Castors und Sartres Gewohnheiten; Lanzmann ist einverstanden, Évelyne auch. Was Lanzmann angeht, so lässt er sich nicht etwa notgedrungen darauf ein, sondern höchst lustvoll – fünf Jahre aufs Intensivste und in jeder Hinsicht, aber auch nachher noch voller Herzlichkeit. Den Schatten wirft Évelynes Schicksal auf das Spiel. Sie findet ihr Glück nicht und nimmt sich  das Leben.
Das sind, persönlich genommen, die wichtigsten Namen aus den zehn Seiten des Personenregisters. Seiten. Lanzmanns Ehefrauen zum Beispiel, wie demonstrativ er sie auch er sie lobt, können da nicht mithalten. Lanzmann selber aber entpuppt sich als ruhmbesessener Hans Dampf in allen Gassen, in die er irgendwann und irgendwo einen Fuß setzt – derselbe Lanzmann, der Zeitzeugen bei den Dreharbeiten für Shoah mit unübertrefflicher Geduld zuhörte und sich keine Sekunde in den Vordergrund drängte.
Dass er Hasen liebt, muss wegen des Titels seiner Memoiren erwähnt werden. Der patagonische Hase stammt aus einem argentinischen Kinderbuch, das Lanzmann, wie er wissen lässt, auswendig kennt. In dieser Geschichte flüchtet ein Löffelohr vor einem Rudel wütender Hunde und fragt im Scherz seine Verfolger, sich zu ihnen zurückwendend, wohin  es denn gehen solle. Den Hunden fehlt kongenialer Humor, und sie kläffen: „Bis ans Ende deines Lebens.“ In Lanzmanns Text taucht Meister Lampe – mehr eine Erscheinung als ein leibhaftiger Rammler – zuerst an einer Stelle auf, an der er partout nichts zu suchen hat und die ich trotz pflichtgemäßem Zurückblättern nicht wiedergefunden habe. Oder sollte ich sie geträumt haben? Auf Seite 326 riskiert Lanzmann dann sogar Simone Beauvoirs und sein eigenes Leben für Hasen. Sie springen ihm  auf einer schauderhaften Straße in Jugoslawien vors Auto, er reißt  halsbrecherisch am Steuer, um sie nicht zu überfahren. Drei Tiere sterben trotzdem. Castor und ihr Liebhaber sammeln sie auf und schenken sie den erstbesten Bauersleuten im nächsten Dorf. Außerdem erinnert Lanzmann daran, dass er selbst in Shoah seiner Liebe zu den Hasen gehuldigt habe: Während ein ehemaliger Birkenau-Häftling berichtet, wie ihm die Flucht aus dem Vernichtungslager gelungen ist, kriecht ein Hase unter Stacheldraht hindurch und flieht in die Freiheit.
Beispiele Lanzmannscher Erzählkunst im Zeichen des Hasen?
Der Journalist besteht, als Mitglied einer Delegation, grandios ein Liebesfiasko mit einer nordkoreanischen Krankenschwester und rettet die Schöne aus den Fängen von Genossen mit Schirmmützen, die ebenso wachsam wie bösartig sind. Zu seinem Leidwesen muss er sich, der Schirmmützen wegen, von seiner Kim Kum-sun trotzdem losreißen, und er findet sie nicht wieder, als er nach einem halben Jahrhundert nach Pjöngjang zurückkehrt. Um so heftiger verachtet er die örtlichen Stalinisten, denen es mittlerweile gelungen ist,  das Land anscheinend endgültig in ein Zwangsarbeitslager für erstarrte Seelen zu verwandeln.
SARTRE UND BEAUVOIR – CITOYENS, NOCH GEPFLEGT GEKLEIDET
                                                                 Foto: jn-Archiv
Oder der nun berühmte Spezialist für Interviews der Sonderklasse lauscht dem edelsten aller Visionäre zu Beginn der sechziger Jahre, Frantz Fanon. Als ihn Lanzmann in Tunis aufsucht, liegt Fanon in einem kahlen Zimmer auf blanker Matratze. Er hat Leukämie, und weder in Moskau noch in  Washington wissen Ärzte ihm zu helfen. Auf seiner armseligen Liegestatt aber entfaltet er unwiderstehlich seinen Traum von einer besseren Welt. Lanzmann ist hingerissen, bringt Fanon und Sartre zusammen, und Sartre schreibt das Vorwort zu Fanons Bekenntnis- und Kampfschrift Die Verdammten dieser Erde. Lanzmann darf sagen, er habe sich um das Bündnis des Philosophen mit dem Kämpfer verdient gemacht.
Mit Fanons Witwe Josie spinnt sich sodann eine weniger erhebende Geschichte an.  Als Lanzmann Josie Fanon wiedersieht, ist sie mit einem Funktionär des algerischen Geheimdienstes liiert, und der Kerl ist „eifersüchtig wie ein Tiger“. Josie ist  der Terrorbrüderlichkeit  (Sartre) der Volksbefreier ausgeliefert. Die halten Mohammeds Anregung, ein Mann solle sein Leben mit vier Frauen teilen, für ein zeitgemäßes Konzept der Bevölkerungspolitik, und ergreifen Besitz von allen Betten, auch von denen attraktiver Witwen. Lanzmann erstattet Simone de Beauvoir darüber Bericht, und die Leitwölfin der Frauenbefreiung erkennt empört Diskussionsbedarf mit den Freiheitskämpfern. Später wird Josie Fanon verlangen, dass eine neue Auflage der Verdammten ohne Sartres Vorwort erscheint. Das ist offenkundig das Resultat einer Gehirnwäsche. Der Verleger spielt nicht mit und nimmt das Buch lieber vom Markt. Lanzmann ist froh über die Entscheidung. Als er erfährt, dass Josie Selbstmord begangen hat, ist er erschüttert. Ihn belastet der Gedanke, der Suizid könne damit zu tun haben, dass Beauvoir in einem zur Unzeit veröffentlichten Brief an Sartre über Josie Fanon gelästert hat.
Die Abschnitte  über die Krankenschwester Kim Kum-sun in Pjöngjang und über den Revolutionär Frantz Fanon sind Lanzmanns Glanzstücke. Er beutet nicht nur sein Gedächtnis aus, er badet in Details, und sie sind es, welche die 682 Seiten (inklusive Personenregister und Quellenhinweise) durchweg spannend machen. Doch in aller Unschuld sei es gesagt: Es gibt auch fade Passagen. Wählerisch ist Lanzmann nun einmal nicht, und nicht nur, wenn er sich  als Herold des Theaters und der Literatur feiert, überzieht er sein Konto.
Im März 1967, wenige Wochen, bevor die Israelis losschlagen, um sich im Sechstagekrieg aus Würgegriff ihrer arabischen Nachbarn zu befreien, reist Claude Lanzmann mit Sartre und Castor durch Ägypten und Palästina. Er muss die Erkundungstour abbrechen, um in Paris eine Ausgabe ihrer Zeitschrift LesTemps Modernes  über die Konflikte im Nahen Osten abzuschließen. Seine Freunde und Gönner setzen die Inspektion ohne ihn fort, wörtlich: „Ohne mich als Mentor, der ihnen zu sagen wagte, was sie denken sollten“. Sind sie noch Freunde? Wohl doch, aber das herzinnige politische Vertrauen ist dahin. Zwar billigt Sartre das mehr als tausend Seiten zählende Temps-Sonderheft mit Beiträgen über die Lage an der Schwelle des Krieges, und sie arbeiten auch weiterhin zusammen, aber auf Seite 511 ist die Katze aus dem Sack. Wie Lanzmann es sieht, hält er am Kurs der Nicht-Untreue fest, auch und vor allem als Chefredakteur der Temps. Doch im aufgeregten Jahr ´68 erträgt er nicht den Standortwechsel, den Sartre und Simone de Beauvoir vollziehen: „Ich ertrug es kaum zu sehen, wie Sartre und Castor... sich unter Blitzlichtgewitter in eine grüne Minna stecken ließen, noch weniger wie sich Sartre kleidete, nachdem er tabula rasa gemacht hatte – Anzug und Krawatte wurden über Bord geworfen, ausgewaschene Pullover und Blouson waren Pflicht.“
Die 68er Revolte eine Frage der Mode? Zum Glück hat sich Sartre den Ansprüchen der jungen Genossen dann doch entzogen und – wohl im Pullover – sein Flaubert-Buch zu Ende gebracht, „ein Buch über einen Bourgeois, geschrieben für die Bourgeoisie“ (Lanzmann). Nicht die Literatur, die Freundschaft litt unter dem Aufruhr der Studenten, und im Patagonischen Hasen fehlen fortan die Partner in der Auseinandersetzung um die besten Einsichten. Lanzmann dreht drei Filme, darunter seinen Jahrhundert-Film, und ist damit ausgelastet. 150 Seiten später kommt er auf Sartre und Castor zurück, erinnert an die herzzerreißende Trauer Simone de Beauvoirs an Sartres offenem Grab und vergisst nicht, gebührend die Schwierigkeiten herauszustreichen, welche er selber damit hatte, den Parcours des Trauerzuges festzulegen und ihn über die Runden zu bringen.
DER PATAGONISCHE HASE
ROWOHLT, 682 S., 24,95 €
Einer ist viel herumgekommen und redet wie losgelassen darüber. Wie seine Filme erteilt Lanzmanns Autobiographie Auskunft über das zwanzigste Jahrhundert. Mit  Shoah haben die Haken, die er nun schlägt, insoweit zu tun, als der Selbstdarsteller Lanzmann sich völlig zu Recht seiner Filme rühmt. Fürs Amüsement sorgt seinTemperament. Doch hätte der Lektor  hundert Seiten oder mehr aus dem Buch herausgestrichen, niemand hätte etwas gemerkt. Die Bemerkung ist müßig. Das Buch ist seinem Autor passiert, niemand konnte ihn aufhalten, und so will er gelesen werden.

Freitag, 29. Oktober 2010

PASSAGENERÖFFNUNG

                                  I am a camera
hier tobt der aufschwung.
eröffnung der passage
um acht uhr morgens,
überfüllt um zehn.
das fest tobt multikulti.

kunden grüßen einander
mit nastrovje oder salem aleikum.
einige sagen auch guten tag.
alle sind fröhlich und greifen nach
sonderangeboten und luftballons.

für die kinder gibt es im ersten stock
eine sandkiste - annähernd so groß
wie anderswo ein ganzer spielplatz.
am rand liegt ein Hund an kurzer leine.

dem tier droht ohrzwang,
denn saxophon und  kalbfell
jazzen sich durch die gänge

außer dem hund ist nur ein
deutscher rentner unfroh und
beschimpft einen türkenjungen.
hat ihm der bengel doch
mit seinem riesenmohnkuchen
fast die windjacke beschmiert.

hinter einer balustrade kauert,
die kapuze über dem kopf gezogen,
ein sprayer, seine Farbtubend ordnend.
gleich lädt er seine pistolen.

jn,  28. Oktober 2010

             

Sonntag, 17. Oktober 2010

Bußgeld

Az: 58.19.505245.8
Sehr geehrter Herr Polizeipräsident in Berlin, lieber Herr Glietsch.
am 14. September haben Sie den folgenden Tatvorwurf gegen mich erhoben: Ich soll mich einer „Verkehrsteilnahme durch Parken“ schuldig gemacht und so eine schädliche Verunreinigung der Berliner Luft verursacht haben (§ 19 OWiG; § 41 Abs. 1 iVm Anlage 2 StVO; § 49 DStVO; 24 StVG; 153 BKat ). Ferner werfen Sie mir vor, „im Bereich eines Parkscheinautomaten ohne gültigen Parkschein“ geparkt zu haben (§ 13 Abs. 1,2, § 49 StVO; 63.1 BKat). In beiden Fällen handelt es beim Kürzel BKat nicht etwa um einen Besonderen Katalysator, sondern um den Bußgeldkatalog. Wie Sie freundlich hinzufügen,wurden die Ordnungswidrigkeiten „tateinheitlich (§ 19 OWiG) bewertet“.
Um es gleich zu sagen: Ich habe das mir von Ihnen auferlegte Bußgeld von 40 Euro zuzüglich einer Bearbeitungsgebühr von 20 Euro und 3,50 Euro an geltend gemachten Auslagen überwiesen, allerdings nicht, wie von Ihnen vorgeschlagen, auf dem mitgeschickten Zahlungsformular  – nur nebenbei: wie teuer war diese Hilfeleistung? –, sondern per Online, worauf Ihre Bußgeldstelle hoffentlich schon eingerichtet ist, obwohl der Kanzleistil Ihres Schreibens das Gegenteil vermuten lässt.
Trotzdem aber und trotz einem halben Dutzend Paragraphen, die Sie zitieren, drängt es mich, Sie zu fragen, wie ich – um Himmels willen – mit einem Auto, das gerade einmal vor einem Jahr zugelassen wurde und mit einem entsprechenden Katalysator ausgerüstet ist, parkend, also doch wohl nach allem Menschenverstand nichtteilnehmend, am Verkehr teilgenommen haben soll. Dabei bin ich noch bereit, die telefonische Auskunft aus Ihrem Hause (ungefähr: „Keine Plakette, kein Katalysator, basta...“) zu schlucken; davon abgesehen ist Ihre wundersame Kombination der §§ 19 OWiG; 41 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage 2 StVO; 24 StVG BKat sowie 13 Abs. 1,2, 49 StVO; 63.1 Kat nebst Hinweis auf die Tateinheitlichkeit  nach 19 OWiG offensichtlich ein totgeschossener Hase, der in der brütenden Hitze eines Hochsommertages im Grunewald Schlittschuh läuft.
Übrigens wollte Kurt Tucholsky schon der Obrigkeit seiner Tage klarmachen, dass es niemandem gut tat,  wenn sie über die Köpfe der Bürger hinwegredete, auch dem Staat nicht. Sie werden sich erinnern, Tucholsky war jener Berliner Literat, der aus Sehnsucht nach der Berliner Luft im schwedischen Exil Hand an sich legte. Wenn Sie eines Tages genug Strafmandate kassiert haben, sollten Sie seine Werke aufkaufen und an Ihre Mitarbeiter verteilen.
Deutsch mit Tucholsky wäre nicht die schlechteste Weiterbildung.
Mit verbindlichen Grüßen
Jost Nolte

Reminiszenz: ALS ALLES HIN WAR

„Immer mehr Städter graben und ernten in Nachbarschaftsgärten. Dabei geht es nicht nur um das gemeinsame Buddeln in der Erde, sondern um Orte der Begegnung.“ (FAS Nr. 41 vom 17. Oktober 2010,  S. 59) Hier eine etwas ältere Erinnerung an Gartenutzung.
DIE KIELER BOLLHÖRN: WO VORHER UNSER HAUS STAND
     Foto: Kriegsschauplatz Kiel, Luftbilder der Stadtzerstörung 1944/45
AKTIV: ARBEIT AN DEN GRASWURZELN               
                                                                                    Foto:Schikkus
CONTEMPLATIV: FRÄULEIN IN DER HÄNGEMATTE
                                                  Deutsches Historisches Museum, Berlin
Der Bildband Kriegsschauplatz Kiel des Historiker Jürgen Jensen ist 1989 im Wachholtz Verlag, Neumünster, erschienen. Den perfiden Reiz des Zerstörten üben auch die Postkarten aus dem Berliner Historischen Museums und dem Schikkus Verlag, ebenfalls Berlin, aus

Samstag, 16. Oktober 2010

Morgengrauen

Der Morgen graut.
Was er bringt,
bleibt abzuwarten.

Ob am nächsten Tag
die Sonne aufgehe,
sei zweifelhaft,
sagte Karl Popper.

Reist Helios heute an?

jn, 16. Oktober 2010

Freitag, 15. Oktober 2010

Der liebe Gott und das Zuchthaus

Bei Herrmann Mostar (1901-1973), dem berühmtesten Gerichtsreporter in der Nachkriegszeit und in den frühen Jahren der Bundesrepublik, gibt es irgendwo eine Szene, in der ein Richter einen Zeugen vereidigen will und ihn fragt, ob er bei Gott oder ohne Nennung des Namens des Allerhöchsten schwören wolle. Der Zeuge antwortet, dass er nicht an Gott glaube, und der Richter antwortet: „Hauptsache, Herr Zeuge, Sie glauben ans Zuchthaus.“
Der Beweis für unverwüstlichen Juristenhumor fällt mir letzter Zeit  häufig ein. Dafür sorgen die bis zum Überdruss strapazierten  christlich-jüdischen Wurzeln in der gegenwärtigen Debatte über Islam und Nicht-Islam. Statt dessen wäre es dringlich erforderlich, mehr als floskelhaft über unsere weiteren Wurzeln zu reden. Anfängern empfehle ich, täglich einen Abschnitt des Lexikons der Aufklärung zu lesen (hrg. v. Werner Schneiders, Beck, München 1995)
jn, 15. Oktober 2010

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Scoop vs. Eigentlichkeit vs. Scoop

Eine Schlagzeile und ein erster Satz: Fliegt hier bald alles in die Luft? Und: Was ist eigentlich los in Stuttgart? Der Leser ergänzt: Nicht nur in Stuttgart, sondern ähnlich oder auch ein wenig anders in Hamburg, wo die für die Kulturpolitik verantwortlichen Politiker durchdrehen. Oder in Neukölln, wo die Jugendkriminalität die Richterin Kirsten Heisig zur Verzweiflung getrieben, aber weder ihr Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, noch ihr Freitod bis dato sichtbaren Wandel in Gang gesetzt hat. Oder was ist eigentlich los in den Köpfen Thilo Sarrazins, seiner Anhänger und seiner Gegner? Dies alles auf einmal und ziemlich verstreut in der Republik und eben auch in Stuttgart. Doch wenigstens dort können wir seit heute morgen etwas klarer sehen. Zum seltsamen Aufruhr um den Stuttgarter Bahnhof nämlich hat jetzt dankenswerter Weise der Verleger Michael Klett Auskünfte erteilt, die geeignet sind, uns beim Aufräumen unserer Vorteile zu helfen.
MICHAEL KLETT
       foto: Klett-Gruppe.de
Michael Klett, Jahrgang 1938, Familienoberhaupt der Kletts, die seit 200 Jahren in Stuttgart leben, sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Ernst Klett AG mit ihren bestens renommierten Verlagen Klett und Cotta, erinnert sich, wie ihm vor sechs Jahrzehnten sein Großvater, Jahrgang 1863, die Trümmerwelt erläuterte, die ihnen in jenen Nachkriegstagen vor Augen lag, und wie sich „der alte Herr mit Zwicker und Vatermörder im schwarzen langen Mantel, mit zerschlissenem Hut und seinem obligaten Tropfen an der Nase“ ereiferte, dass der famose Stuttgarter Bahnhof  nie und nimmer hätte an dem Platz gebaut werden dürfen, an dem er von 1914 bis 1928 errichtet worden war. Der Bahnhof hätte vielmehr an den Neckar gehört, denn „damit hätte man der Talenge Raum für die Entwicklung der Stadt gegeben“, und die Stuttgarter hätten dem Projekt nicht einen wundervollen Park opfern müssen.
Die Verteidigung des Stuttgarter Bahnhofs ein Irrtum? Die Geschichte klingt nun plötzlich nach einem Schwabenstreich, vergleichbar jener Volksbuchszene, in der einem gewissen Veitel aus einem Fuchsloch ein Hase in den als Falle bereit gehaltenen Sack springt, Veitel den Sack zuschnürt, bevor er die zappelnden Beute identifiziert hat, und sie, in ihr ein Ungeheuer vermutend, nach Hause trägt, wo er sich anhören muss:
Potz Veitle! luag, luag, was ischt das?
Es Ohngeheuer ischt e Has.
Was eigentlich los sei? Der Jargon der Eigentlichkeit hat, wie wir von Theodor W. Adorno wissen, seine Abgründe. Aber es gibt ja auch noch Leopold von Rankes Forderung, zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen“ sei. Sehen wir das Eigentliche so, dann geht es darum, den tatsächlichen Ereignissen so nahe wie möglich zu kommen. Für uns Journalisten und nicht nur für uns heißt dies, unverdrossen nach den Wurzeln zu graben. Und wer etwas von Bedeutung als erster ans Licht bringt,  landet einen Scoop; so heißt es im Journalistenjargon. Laut PONS, dem Sprachportal des Klett Verlages, ist ein scoop eine Schaufel, eine Schippe, ein Schöpflöffel, ein Messlöffel oder Ähnliches. Die Schaufel oder den Löffel müssen wir so lange ansetzen, wie wir hoffen können, mit der Wahrheit voranzukommen. Den Rest müssen wir den Historikern überlassen.
Ihnen liefert jetzt wiederum ein Journalist Material. Auf seiner Website hat Gerhard E. Gründler unter dem Stichwort Kurzwaren historische Scoops zusammengestellt. Ein beneidenswerter, sehr lehrreicher Einfall, der sich vom Lukas-Evangelium („Es waren Hirten auf dem Felde“) bis zu den Techtelmechteln des VW-Personalvorstandes Peter Hartz mit dem VW-Betriebsrat erstreckt.
Dass auch eine Kindheitserinnerung zum Scoop heranwachsen kann, hat jetzt Michael Klett bewiesen.