Die Frage, wie fest Egoismus und Altruismus in der menschlichen Seele verankert sind, stellt sich nicht nur zur Weihnachtszeit. Der Philosoph Richard David Precht widmet sich ihr in seinem Buch Die Kunst, kein Egoist zu sein auf 544 Seiten. Am Ende bedankt er sich höflich bei denen, die ihm auf seinem großen Rundgang gefolgt seien. Tatsächlich mutet er seinen Lesern unterwegs einiges zu – vor allem eine Unmenge von Zitaten. Zu den anregenden Büchern der Saison gehört sein Traktat trotzdem.
Das gute Gefühl, gut zu sein, belohnt uns für gute Taten. Diese gute Erfahrung mit dem Guten, das wir tun, so sagen uns die Hirnforscher, funktioniert dank raffinierter Chemie: Botenstoffen manövrieren zwischen unseren Hirnlappen, vernetzen sie und lösen in ansprechbaren Regionen Erregungszustände aus, die wir als angenehme, aber auch als widerstreitende Gefühle erleben. Damit bestätigt ein Befund der Wissenschaft jüngeren Datums, was Menschen sich gesagt haben, seit sie ins Grübeln über sich selber geraten sind. Zu bedauern bleibt, dass trotzdem den klügsten Köpfen bis dato nicht eingefallen ist, was unter objektiven Gesichtspunkten das Gute eigentlich sein mag. Wir müssen uns, wie so oft in wichtigen Fragen, mit Annäherungswerten zufrieden geben. Ins Gewicht fällt jedenfalls, dass der Mensch bei allem, was er im übrigen sein mag, ein soziales Wesen ist und allem Anschein nach über ein angeborenes Talent zur Moral verfügt. Obwohl sich ihm das Wesen des Guten nicht erschließt, lernt er doch in der richtigen Gesellschaft und bei geeigneter Betreuung hinlänglich, wie er sich in unterschiedlichen Situationen verhalten soll, und weil er die Aufmerksamkeit und die Anerkennung seiner Mitmenschen braucht, vergisst er seinen Egoismus. Er benimmt sich stattdessen altruistisch. Auf diesem Wege gewinnt er sein Selbstbild und sein Selbstwertgefühl, und um sie ist es ihm fortan vordringlich zu tun. Ferner: Die größte Gefahr für dieses Selbstbild ist der Anerkennungsverlust, denn der gefährdet unser Selbstwertgefühl. Grund genug so zu leben, dass es uns unbeschadet und unschädlich erhalten bleibt.
Der Altruismus ein etwas anderer Egoismus? Richard David Precht, Jahrgang 1964, gelernter Philosoph und Schriftsteller von einschüchternder Eloquenz, kommt zu diesem Resultat und verteidigt es, indem er uns mit einschlägigen Einsichten eindeckt, die seit Platon und Aristoteles im Schwange sind, vor allem aber versorgt er uns mit Interpretations-Angeboten aus den letzten hundert Jahren. Welche von Prechts jüngeren Quellen das Etikett Philosophie verdienen, sei dahingestellt, aber auch die Sozialpsychologie, auf die er sich mehr und mehr einlässt, wartet mit Argumenten auf, die sich hören lassen können. Dort, in der Sozialpsychologie, geht es um die menschliche Seele und die Auswirkung ihrer Natur auf das Gemeinwesen oder umgekehrt; in der Ethik, wahlweise Moralphilosophie genannt, handelt es sich um den der Wahrheitskern der Dinge und um ihr Gut und Böse. Der Unterschied im Anspruch ist nicht zu übersehen. Aber sagen wir, es handele sich um den bekannten Spatz in der Hand, der uns mehr wert sei als die Taube auf dem Dach. Hat doch Schon Epikur (geboren um 341, gestorben 271 v.Chr.) erkannt, alles Gut und Übel liege in der aísthesis, in der Empfindung (Brief an Menoikeus). Nicht so leicht lässt sich vom Tisch fegen, dass uns der Verfasser des Traktats über die Kunst, kein Egoist zu sein mit Zitaten und Gegenzitaten eindeckt, bis uns die Lust vergeht, über deren Stichhaltigkeit nachzudenken.
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Die Kunst, kein Egoist zu sein
Goldmann, 544 S., 19,99 € |
Und es bleibt nicht bei den Ausflügen in die Psychologie. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, stößt uns Precht etwa beim Schlüsselwort Fairness mit der Nase auf Experimente, die der niederländische Primatenforscher Frans de Waal und seine Kollegin Sarah Brosnan in der Emory University in Georgia/USA mit zwei südamerikanischen Kapuzineraffen angestellt haben, um herauszufinden, ob diese nicht als besonders hell im Kopf geltenden Probanden einen Sinn für Gerechtigkeit im gegenseitigen Umgang haben: Als Belohnung für die Herausgabe von Jetons fütterten die Wissenschaftler einen ihrer beiden Kapuziner mit Gurkenstücken und den andere mit Weintrauben. Das rasche Ergebnis: Der glücklichere Konkurrent konnte von den Trauben nicht genug bekommen; der andere verweigerte bald den Verzehr der Gurken und beschwerte sich über die nachteilige Versorgung mit lautem Gekreisch. Die fundamentale Schlussfolgerung lässt nicht auf sich warten: „Die Fähigkeit zur Fairness... ist keine kulturelle Zutat. Sie wurzelt tief im Tierreich.“ – Ein hübscher Gedanke! Nur verflüchtigt er sich, sobald der Einwand auftaucht, dass dem benachteiligten Kapuziner wahrscheinlich die sauren Gurken auf den Magen geschlagen seien. Wenn ihn aber wirklich Seelenpein ob der ungerechten Verteilung schmackhafter und unschmackhafter Nahrungsmittel zum Protest veranlasst hat, dann wäre diese Reaktion mit Neid vermutlich besser benannt als mit einem rudimentären Empfinden für Fairness. Oder sollte es sich dabei um das Gleiche handeln?
Nicht nur das Verhalten von Affen, auch Vermutungen über unsere frühen menschlichen Vorfahren in Savanne und Urwald zitiert Richard Precht gern, um uns von der Naturgegebenheit des Altruismus zu überzeugen – und er greift nach der Zeitgeschichte, nämlich nach Christopher Brownings Bericht über das Massaker, das im Juli 1942 in der polnischen Ortschaft Jósezóf das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 an den dort lebenden 1800 Juden verübt hat, nach einer Untat, die ihre abscheuliche Dimension drei Begleitumständen verdankt, den Umständen
· dass die Täter tatsächlich waren, was Browning über sie gesagt hat: ganz normale Männer, denen unter anderen Umständen ein vergleichbares Verbrechen nie in den Sinn gekommen wäre,
· dass ihr Vorgesetzter ihnen deswegen freigestellt hat, seinen Befehl zu befolgen oder ihn, ohne bestraft zu werden, zu verweigern: den Befehl, mit äußerster Gewaltanwendung Frauen, Kinder und Greise zu ermorden
· und dass die meisten der Männer – die Rede ist lediglich von einem Dutzend Ausnahmen – trotzdem gehorcht und gemordet haben.
Für die Erörterung von Egoismus und Altruismus ist der Massenmord von Jósezóf ein Lehrbeispiel ersten Ranges. Richard Precht beschäftigen zu Recht der Konformitätsdruck der Gruppe und der soziale Reflex, nicht aus der Gemeinschaft auszuscheren: Der Druck, den das Verhalten der Gruppe auf das Verhalten des Einzelnen ausübt, funktioniert offenkundig selbst dann, wenn er der Gruppe nicht aus freien Stücken angehört, sondern aus einem gewohnten, von landläufiger Moral gesteuerten Milieu herausgerissen wird und sich in einer extremen Situation vor eine extreme Entscheidung gestellt sieht. Und der Druck funktioniert, ob der Mensch nun im Falle nichtkonformen Verhaltens schwere persönliche Folgen zu erwarten hat oder nicht. Der Einzelne stellt sich der Gruppe nicht in den Weg. Moralische Maßstäbe, folgert Precht, lassen sich verschieben.
Es lohnt sich, den historischen Hintergrund etwas schärfer zu beleuchten: Als im Januar 1942 die sogenannte Wannseekonferenz den Beschluss zum Völkermord an den Juden verabschiedete, funktionierte in Deutschland das Handlungsmuster von Verführung und Gewalt (der Zeithistoriker Hans-Ulrich Thamer) seit neun Jahren. Der Konformismus der Verführten war allgegenwärtig, und er war erbärmlich. Ihn unmenschlich zu nennen, verbietet sich jedoch; tatsächlich war er menschlich. Das hybride Selbstwertgefühl der Regisseure des Schreckens riss die Volksgenossen mit, die allgegenwärtige oder zumindest jeder Zeit zu gewärtigende Gewalt im öffentlichen Leben sorgte für den (fast) ungestörten Ablauf des Zusammenspiels von Befehl und Gehorsam. Die Hybris gipfelte dann in einer Geheimrede, die der SS-Reichsführer Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 im Rathaus von Posen vor Untergebenen hielt. Im Januar jenes Jahres hatten sich die Alliierten in Casablanca darauf verständigt, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu führen. Ende Januar, Anfang Februar warfen mehr als 100.000 Mann der deutschen 6. Armee in Stalingrad die Waffen weg und zogen in die russische Gefangenschaft. Nach zehn Monaten hielt Himmler es für angebracht, seiner Truppe zu erklären, was es für sie bedeutete, dass inzwischen nicht nur die Amerikaner auf Sizilien gelandet waren, sondern auch die Rote Armee trotz Hitlers Befehl an die Wehrmacht, nur verbrannte Erde zu hinterlassen, den Marsch nach Westen angetreten hatte.
Was seinen Leuten blühte, wenn Deutschland den Krieg verlor, sagte ihnen der SS- Reichsführer bezeichnender Weise, indem er, so wörtlich, die Ausrottung des jüdischen Volkes als historisches Ruhmestat pries: „Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. Das jüdische Volk wird ausgerottet, sagt ein jeder Parteigenosse, ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte...“ Das Ruhmesblatt renommiert mit vieltausend toten Opfern und soll den Tätern Mut machen, mit den Massenmorden fortzufahren. – Weiter lässt sich die Moral nichts ins Absurde und Perverse verschieben. Nietzsches Forderung nach der Umwertung aller Werte war in Himmlers Kopf zur praktizierten Banalität des Bösen mutiert – zum Völkermord, und der Reichsführer konnte sich auf seine braven Deutschen verlassen. Mochten einige wenige aus der Reihe tanzen. Mit ihnen konnte die SS fertig werden; sie konnte sie sogar laufen lassen. Die weitaus meisten gehorchten.
Dass Richard Precht in der Menschenseele neben dem Egoismus den Altruismus verortet, kann wenig trösten, wenn dort auch die Neigungen zum bedingungslosen Gehorsam und zur Selbsttäuschung lauern, die unter Umständen die Urteile jeglicher Gewissensinstanz zunichte machen.
Precht selber greift zum Schluss seiner Tour d´horizon unverdrossen noch einmal nach einem Zitat. Ihm fällt der Physiker und Begründer einer experimentellen Ästhetik Gustav Theodor Fechner ein, der anno 1879 in einer Schrift über die Optimismus spendende Tagesansicht gegenüber der zum Pessimismus verleitenden Nachtansicht verfasste und verkündete: “Und geht uns nicht die Welt selbst ringsum mehr zu Herzen und ist mehr nach unserm Herzen, wenn die Sonne ihren Glanz, der Himmel sein Blau, des Meer sein Rauschen uns treulich mit vertraut, die Buche, ehe die Axt sie fällt, um uns zu wärmen, erst aufwärts strebt, um selber Licht und Wärme zu genießen, als wenn uns alles das aus der Welt nur anlügt, wie die Nachtansicht es lügt. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird...“
Die Tagesansicht jubiliert mit den Lerchen, die frühmorgens ins Himmelsblau aufsteigen und verscheucht die Albträume der Nacht. Leider bleibt es fraglich, ob die Nacht tatsächlich lügt und der Sonne Glanz zur Seeligkeit einlädt. Richard Prechts Vorschlag, uns dem zuversichtlichen Professor Fechner aus Sachsen nach der Rundum-Betrachtung der Menschenseele befreiten Herzens anzuschließen, fällt schwer.