Montag, 28. März 2011

Sakrilege oder Der Gott der Philosophen

Der Versuch, die Epoche der Aufklärung nachzuerzählen, und zwar eher auf literarische als auf wissenschaftliche Manier, ist weder schwieriger noch leichter zu bewältigen als das Unterfangen, andere verflossene Epochen zu vergegenwärtigen - genau genommen, ist das Wagnis wie stets zum Scheitern verurteilt. Philipp Blom, Jahrgang 1970, Journalist mit allerersten Adressen, lässt sich trotzdem darauf ein, und dies mit beträchtlichem Erfolg. Nachdem er, sattelfest in den Details, zum Wichtigsten, zum Verhältnis der Aufklärer zu Gott, vorgestoßen ist, bricht er zur Reise zu den umliegenden Dörfern auf und verliert etwaige Ziele aus den Augen. Der Schaden hält sich in Grenzen. Das Buch bleibt spannend zu lesen, und zu erfahren gibt es bis zum Schluss genug.
Denis Diderot, Regisseur der Aufklärung
foto: jn-Archiv
Aus der Encyclopédie: „Sacrilegium ist ein Wort, das aus sacra & legere gebildet wird & bedeutet, heilige Dinge an sich reißen oder entwenden. Sakrileg ist also der Diebstahl von heiligen Gegenständen; wer sie raubt, heißt sacrilegus... Das Wort Sakrileg wird auch in der Heiligen Schrift gebraucht; denn so wird dort die Handlung bezeichnet, durch welche sich die Israeliten, die den madianitischen Töchtern gefallen wollten, zur Anbetung des Baal verleiten ließen (4 Mose 25,18). Da die Sakrilege gegen die Religion verstoßen, muss die Bestrafung der Schuldigen einzig & allein aus dem Wesen der Sache selbst abgeleitet werden; sie muss in der Entziehung der Vorzüge bestehen, welche die Religion verschafft, in der Vertreibung aus den Tempeln, dem zeitweiligen oder ständigen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen, der Vermeidung des Umgangs mit ihnen, der Verabscheuung, der Verdammung, der Verfluchung. Aber wenn der Richter das heimliche Sakrileg erforschen will, so führt er die Untersuchung über eine Handlungsweise durch, die eigentlich gar keiner Untersuchung bedarf; er hebt die Freiheit der Staatsbürger auf, indem er gegen sie den Fanatismus des ängstlichen & des kühnen Gewissens ins Feld führt. Das Übel entsprang aus der falschen Auffassung, dass man das göttliche Wesen rächen müsse; aber man muss dafür sorgen, dass das göttliche Wesen verehrt wird, & soll es niemals rächen...“
Für den letzten Satz lässt der Verfasser die Respektsperson Montesquieu bürgen, den Autor des Geistes der Gesetze, und der Hinweis auf dessen monumentales Werk ist nicht die einzige Vorsichtsmaßnahme, die Louis de Jaucourt trifft. Einer der emsigsten  Mitarbeiter  an der Encyclopédie Denis Diderots und Jean d´Alemberts hatte zwingende Gründe, darauf hinzuwirken, dass die „Bestrafung der Schuldigen“ auf die „Entziehung der Vorzüge der Religion“ zu begrenzen sei. In der Rechtspraxis seiner Tage nämlich barg es noch immer erhebliches Risiko, Zweifel an Gottes gütiger Allmacht auszusprechen. Wenn es schlimm kam, musste ein Untertan Ludwigs XV., des vorletzten Königs des Ancien Régime in Frankreich, nicht nur damit rechnen, dass ihm der Scharfrichter die Zunge durchbohrte und sie ihm an den Gaumen heftete. Er musste darauf gefasst sein, dass ihm der Henker das Sprechwerkzeug aus dem Mund riss und ihm anschließend den Kopf abschlug. Dass Herrschaft selber zum Verbrechen erklärt werden konnte, lernten die Franzosen dann bekanntlich ziemlich abrupt, als die Jakobiner den sechzehnten Ludwig, den Enkel und Nachfolger des fünfzehnten, auf die Guillotine schickten.
400 S., 24,90 Euro          
Doch das Problem, das die Köpfe der Aufklärung mit Gott hatten, überstieg bei weitem die Schwierigkeiten, die ihnen die Strafandrohung bereitete, denn nur wenige von ihnen brachten es fertig, die Religion aus ihren Vorstellungen radikal zu verbannen. Umso erstaunlicher, dass der heftigste philosophische Angriff auf das Christentum aus der Feder eines Dorf-priesters in den Ardennen stammte: Dieser Abbé Jean Meslier (1664-1729) verfasste, hinter der verriegelten Tür seiner armseligen Studierstube, in einsamer Verlassenheit, aber voller Mitleid für die namens der Religion geschundenen und darbenden Mitmenschen eine 500-Seiten-Anklage gegen die Kirche. Zu seinem Glück wurde seine Streitschrift erst nach seinem Tod entdeckt. Andernfalls hätte er grausam für schlichte Sätze wie diese leiden müssen: „Wisset, meine lieben Freunde, dass alles, dass jeder Kult und alle Verehrung von Göttern nichts ist als Irrtum, Missbrauch, Illusion, Lüge und Betrug; dass all die Gesetze und Bestimmungen, die im Namen Gottes oder anderer Götter veröffentlicht werden, nur menschliche Erfindungen sind, genau wie die schönen Spektakel und Feste und Opfer und alle anderen Bräuche zu seinen Ehren“ (Blom, S.120).
An Mesliers Text müssen sich die berühmtesten und die gescheitesten philosophes des lumières messen lassen, ob sie nun Voltaire, Rousseau, Diderot, d´Alembert  oder Baron d´Holbach hießen. Am leichtesten machte es sich Voltaire. Aus seinem mit Geldgeschäften finanzierten goldenen Exil nahe Genf ließ er wissen: „Ich will, dass mein Advokat, mein Schneider und sogar meine Frau an Gott glauben, denn ich bin überzeugt, dass ich dann weniger oft bestohlen und betrogen werde“ (S.123). Anders gesagt: Wer Gott fürchtet, klaut seltener silberne (oder goldene) Löffel, was für den Eigentümer von Wertsachen zweifellos von Vorteil ist. Am anderen Ende der Skala der Glaubensungewissheit kann  der Paranoiker Rousseau  „den Gedanken an ein gottloses Universum einfach nicht ertragen“. Rousseau schreibt an Voltaire: „Nein, ich habe in diesem Leben zuviel gelitten, um nicht ein anderes zu erwarten. Alle Spitzfindigkeiten der Metaphysik werden mich auch nicht nur einen Moment an der Unsterblichkeit der Seele zweifeln lassen; ich fühle es, ich glaube es, ich will es, ich hoffe darauf, ich werde es (diese Überzeugung) bis zum letzten Atemzug verteidigen“ (S.163). So allerdings spricht keiner, der nie zweifelt.
Wie gesagt, Philipp Blom gefällt sich als Verfasser von Belletristrik, aber er schöpft aus dem Vollen. Die Entscheidung, wo auf dem Terrain zwischen den Zeilen des Abbé Meslier und den Gedanken Voltaires und Rousseaus, vor allem aber wo bei den Herausgebern und den Autoren der Encyclopédie sowie bei den Gastgebern und Gästen der berühmten Salons der Epoche, die Wahrheit  zu suchen sei, bleibt uns, den Lesern, überlassen. Da nun einmal der Impuls zur Aufklärung dem Willen zur Freiheit entspringt, lässt sich dagegen kaum etwas einwenden.

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